Magnus Carlsen beim Nachdenken. 2013 war er erstmals Schachweltmeister. In Dubai hat er den Titel erneut verteidigt.

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Dubai – Am Ende ging alles sehr schnell, zu schnell eigentlich. Fünf Partien lang war zwischen Weltmeister Magnus Carlsen und Herausforderer Jan Nepomnjaschtschi Remis auf Remis gefolgt. Eine WM mit zwölf unentschiedenen Begegnungen und einem Schnellschach-Tiebreak, wie 2018 zwischen Carlsen und Fabiano Caruana, schien als Gespenst bereits am EXPO-Geländen von Dubai umzugehen. Aber dann kam Partie sechs.

Die längste Partie

Rückblickend betrachtet wurde die WM in dieser denkwürdigen sechsten Runde am 3. Dezember wohl bereits entschieden. Zunächst hatten beide Spieler Gewinnchancen und nutzten sie nicht, dann unterliefen dem Herausforderer ein paar weitere Ungenauigkeiten. Die genügten Carlsen, um seinen Gegner stundenlang in einem leicht besseren Endspiel durchzukneten. Bis beiden kaum mehr Bedenkzeit verblieben war und Jan Nepomnjaschtschi nach fast acht Stunden den entscheidenden Fehler beging.

Die an Zügen längste WM-Partie der 135-jährigen Geschichte des Championats, die fast acht Stunden währte, ließ an Dramatik nichts zu wünschen übrig und versetzte die Schachwelt in Feierstimmung. Fragte sich nur, ob der Herausforderer sich von diesem Nackenschlag erholen würde. Und ob Carlsen für Nepomnjaschtschi überhaupt zu biegen war.

Beide Fragen wurden schneller, als es dem Publikum lieb sein konnte, negativ beantwortet. In den Partien acht und neun strauchelte der Herausforderer so ungeschickt, wie es in einer klassischen Schach-WM sonst kaum je zu sehen war. Übertrieben schnell spielend stellte Nepo einmal einen Bauern, dann gar eine ganze Figur ein. In Partie elf, mit drei Punkten Rückstand praktisch chancenlos im Hintertreffen, schmiss der Russe endgültig die Nerven weg: Diesmal ließ er im Mittelspiel den eigenen König im Stich. Carlsen sagte danke, fuhr seinen vierten Sieg ein und beendete die WM damit bereits drei Runden vor Schluss.

Eine Frage der Ehre

Obwohl Nepomnjaschtschi sich in den Pressekonferenzen betont gelassen und sportlich gab, liegen beim Team des Herausforderers nach dieser krachenden Match-Niederlage offenbar die Nerven blank. Sekundant Sergei Karjakin, 2016 in New York selbst an Carlsen gescheitert, stichelte auf Twitter gegen den Weltmeister und dessen russischen Sekundanten Daniil Dubow. "Stell dir vor, du musst eine WM gegen Carlsen spielen. Wirst du dann Hilfe von, sagen wir, (Anm.: den norwegischen Großmeistern) Hammer oder Tari akzeptieren?", fragte Karjakin in den digitalen Raum; und gab damit zu erkennen, dass Schach in Russland immer noch eine Frage der nationalen Ehre ist.

Großmeister Jon Ludvig Hammer antwortete Karjakin postwendend und humorvoll: "Ich möchte nur sicherstellen, dass alle zukünftigen Herausforderer Carlsens wissen, dass ich für den richtigen Preis zum Verkauf stehe."

Abgesehen vom russischen Frust über eine weitere verpasste Gelegenheit, die Krone zurückzuergattern, wird von dieser rein schachlich etwas enttäuschenden WM vor allem die Dominanz Carlsens in Erinnerung bleiben. Die Regentschaft des 31-Jährigen aus Tönsberg, der seit 2013 bereits sein fünftes WM-Match gewann, ist mit diesem überdeutlichen Sieg ein weiteres Mal prolongiert. Und Ende Dezember ist Carlsen schon wieder hoher Favorit, wenn der Weltmeister aller Klassen in Warschau seine beiden Titel im Schell- und Blitzschach zu verteidigen sucht.

Angriff der Jugend

Auf die über 20 Jahre andauernde Dominanz seines einstigen Trainers Garri Kasparow fehlt dem Norweger, der die ELO-Liste seit 2011 ohne Unterbrechung anführt, aber eben doch noch ein gutes Jahrzehnt. Ob der mitunter launische Weltmeister überhaupt Lust hat, so lange professionell Figuren zu ziehen, steht in den Sternen. Auf Fragen nach seinen Zukunftsplänen antwortete Magnus Carlsen in Dubai nicht.

Die Pläne eines möglichen kommenden Herausforderers scheinen dafür umso klarer. Alireza Firouzja, erst 18 Jahre alt und schon Nummer zwei der Weltrangliste, qualifizierte sich kürzlich für das Kandidatenturnier im kommenden Jahr, bei dem Carlsens nächster WM-Gegner ermittelt wird. Der im Iran aufgewachsene Franzose ist der Shooting Star des Spiels und durchbrach kürzlich die ELO-Schallmauer von 2800 Punkten.

Den Weltmeister scheint diese neue Konkurrenz vorerst zu beflügeln. Das großartige Spiel Firouzjas habe ihn in Dubai mehr motiviert als alles andere, gab Carlsen zu Protokoll. Ein WM-Duell der beiden Wunderkinder verschiedener Generationen könnte es in der ersten Jahreshälfte 2023 geben, falls Firouzja zuvor das Kandidatenturnier gewinnt. (Anatol Vitouch, 12.12.2021)