Bild nicht mehr verfügbar.

Ein schon leicht angetauter Schneekristall auf frisch gefallenem Schnee. Warum sind so gut wie alle Schneekristalle sechseckig?

DPA / APA / Patrick Pleul

Weltberühmt wurde er durch die nach ihm benannten Gesetze, mit denen er erstmals beschrieb, wie sich Planeten um die Sonne bewegen. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum Johannes Kepler, dessen Geburtstag sich am 27. Dezember zum 450. Mal jährt, als einer der Begründer der modernen Naturwissenschaften gilt: Der aus Deutschland stammende Mathematiker und Astronom, der viele Jahre seines Lebens in Linz und Graz verbrachte, bestätigte auch einige Entdeckungen seines Zeitgenossen Galileo Galilei und widmete sich zahlreichen weiteren Fachgebieten wie der Optik.

Kepler verfasste aber auch die mutmaßlich erste wissenschaftliche Monografie über Schneekristalle – in lateinischer Sprache, wie es sich für die damalige Zeit gehörte: Der vollständige Titel der 1611 erschienenen Abhandlung lautet "Strena Seu De Nive Sexangula". Auf Deutsch bedeutet das so viel wie "Neujahrsgabe oder Über die sechseckige Gestalt des Schnees". Die kleine Arbeit voller Anspielungen und erstaunlicher Einsichten war eine Gabe für seinen über 20 Jahre älteren Freund und Gönner Johann Matthäus Wacker von Wackenfels, der sich von Kepler ein kleines Geschenk erbeten hatte.

Das Cover von Keplers kleiner, aber nicht ganz billiger Arbeit.
Foto: ETH Zürich / gemeinfrei

Kepler schrieb, dass Wacker von Wackenfels nun eben "nix" erhalte, was nicht nur Lateinisch für Schnee steht, sondern eben umgangssprachlich auch für "nichts". Apropos: Gratis kann man sich hier ein PDF des 24-seitigen Werks auf der Webseite der Bibliothek ETH Zürich herunterladen. Wer hingegen eine gebrauchte Originalausgabe als Weihnachtsgeschenk hätte oder als Neujahrsgabe verschenken möchte, wird hier fündig – für schlanke 75.000 US-Dollar, nicht gerade nichts.

Kristalle auf dunklem Mantel

Doch zurück zum Inhalt dieses Traktats: Auf die Idee dazu kam Kepler bei einem Spaziergang über die Karlsbrücke in Prag, als es zu schneien begann. Der Mathematiker, der bis 1612 in der Stadt an der Moldau tätig war, beschrieb die Kristalle auf seinem dunklen Mantel fast ehrfürchtig: "Es waren einzige Plättchen aus Eis, sehr flach, sehr poliert und sehr transparent, ungefähr von der Dicke eines Blattes Papier, aber perfekt in Sechsecken geformt. Ihre sechs Seiten waren so gerade und die sechs Winkel so gleich, dass es unmöglich für einen Menschen wäre, etwas so Genaues herzustellen."

Kepler erkannte ganz richtig, dass Schneekristalle aus gefrorenem Wasserdampf entstehen: "Die Kondensation entsteht gewiss durch die Kälte. Durch die Kondensation aber geht der Dunst zur Form des Sterns über", so Kepler. "Zum zweiten sei es, dass diese Dunstkügelchen sich gegenseitig in einer bestimmten Anordnung berühren." Warum aber kommt es dabei ausnahmslos zur sechseckigen Form? Und warum entstehen nicht fünf- oder siebeneckige Kristalle?

Als eine mögliche Erklärung nennt Kepler weitere Beispiele für hexagonale Formen in der Natur wie die Bienenwabe: Die sechseckige Form eigne sich zum einen neben Dreiecken und Quadraten dazu, eine Fläche lückenlos zu bedecken. Das Hexagon sei jedoch den beiden anderen geometrischen Figuren überlegen, da es bei gleicher Seitenlänge den größten Flächeninhalt ausweise. Doch im Fall der Eiskristalle handelt es sich beim "Ausgangsmaterial" um Dunstkügelchen. Bleibt also das Rätsel, warum es bei ihnen zur gefrorenen Sechseckigkeit kommt.

Die Keplersche Vermutung

Skizze zum Stapelproblem in Keplers Schrift über die Schneeflocke. Seine diesbezügliche Vermutung sollte erst rund 400 Jahre später bewiesen werden.
Foto: ETH Zürich / gemeinfrei

Genau darin liegt auch eine besondere Bedeutung dieser kleinen Schrift: Sie enthält nämlich en passant die erste Formulierung der Keplerschen Vermutung. Dabei geht es um das Problem, wie man gleich große Kugeln möglichst platzsparend stapelt. Kepler vermutete, dass die sogenannte kubisch-flächenzentrierte Packung und die sogenannte hexagonale Packung die größte Dichte aufweisen. Im einen Fall handelt es sich, vereinfach ausgedrückt, um eine Pyramide mit quadratischer Grundfläche, im anderen Fall um ein gleichseitiges Dreieck. Beide Packungen haben die gleiche mittlere Dichte von etwas mehr als 74 Prozent.

Es dauerte bis zum Jahr 1998 ehe der US-Mathematiker Thomas Hales einen erste Lösung vorlegen konnte. Bis dieser rund 300-seitige Beweis – einer der ersten mit Softwareunterstützung – dann publiziert und allgemein akzeptiert wurde, sollte es freilich noch einmal fast 20 Jahre dauern. (Der STANDARD berichtete.)

Die andere Bedeutung von Keplers Traktat liegt darin, dass er Molekülstrukturen und ihre Bedeutung vorausahnte. Ohne noch das geringste Wissen von der Raumstruktur von Wassermolekülen zu haben, kam Kepler zum Schluss, dass sich diese kleinsten, gleichgearteten Kügelchen hexagonal anordnen würden, da dies die dichteste Packung sei. So würde sich dann auch die Sechseckigkeit der Schneeflocken erklären. Damit kam er der Lösung des Rätsels erstaunlich nahe.

400 Jahre nach Kepler

Gut vierhundert Jahre nach Keplers Schneeschrift ist nicht nur die darin enthaltene Vermutung gelöst, sondern auch so gut wie jedes Rätsel rund um die Entstehung von Schneekristallen. Das ist auch den Arbeiten des US-Physikers Kenneth Libbrecht (California Institute of Technology) zu verdanken, der ähnlich wie Kepler auch an astronomischen und astrophysikalischen Fragen forschte.

Libbrecht hat etliche Bücher über Schneeflocken veröffentlicht, darunter auch sein über 500-seitiges Standardwerk "Snow Crystals", das es hier gratis gibt. Außerdem betreibt er mit snowcrystals.com die wohl beste Seite über Schneeflockenforschung. Im folgenden neuen Video des großartigen Youtube-Kanals Veritasium beantwortet er die wichtigsten Fragen rund um Schneekristalle und ihre Entstehung. Und er zeigt, wie er im Labor künstlich und nach eigenem Gusto Schneekristalle erzeugen und designen kann:

Veritasium

Wie die Kristalle entstehen

Wie also kommen sechseckige Schneekristalle zustande? Ist es wärmer als minus 40 Grad, braucht es dafür zunächst einmal einen Kristallisationskeim, im Normalfall dient dazu ein Staubkörnchen. Wassermoleküle, die sich daran anheften, bestehen aus zwei Atomen Wasserstoff und einem Atom Sauerstoff. Beim Gefrieren ziehen die schwachen Wasserstoffbrückenbindungen die bis dahin ungeordneten Wassermolekülcluster in eine gitterartige Anordnung.

Wie man seit einer 2019 im Fachblatt "PNAS" erschienenen Studie weiß, sind 90 Wassermoleküle die absolute Untergrenze, bis sich erste Kristallstrukturen bilden. Im Normalfall sind es etwas unter 500 Wassermoleküle, bei denen sich die sechseckige Gitterstruktur ausprägt, berichteten deutsche Forscher bereits 2012 im Wissenschaftsjournal "Science".

Die Zahl der Wassermoleküle, die es braucht, bis sich erste Kristallstrukturen bilden.
Grafik: Daniel R. Moberg et al., PNAS 2019

Diese Gitterstruktur ist für die Wassermoleküle energetisch besonders günstig und dafür verantwortlich, dass Eis eine geringere Dichte als Wasser hat – und daher auch auf Wasser schwimmt.

Damit ist aber noch nicht geklärt, warum sich diese sechseckige Struktur in makroskopischer Ebene in den für uns sichtbaren Schneekristallen fortsetzt, denn immerhin ist ein solcher Kristall milliardenfach größer als seine kleinsten Einheiten. Die Erklärung besteht darin, dass bei dieser sechseckigen Gitterstruktur die Ecken "rauer" sind. An diesen ragen mehr offene Bindungen in die Luft und bieten Andockstellen für weitere Wassermoleküle.

Ein sich selbst verstärkender Prozess

Haben sich an diesen Stellen erst einmal Vorsprünge gebildet, setzt sich ein weiterer, sich selbst verstärkender Mechanismus in Gang: Jene Stellen des Kristalls wachsen am schnellsten, die möglichst weit in die umgebende Luft hineinragen. Je weiter sie das tun, desto wasserhaltiger wird die Luft und desto mehr Moleküle lagern sich an – eine vorspringende Eisnadel entsteht.

Genau Gleiches findet auch an den anderen fünf Ecken des Kristalls statt. Die perfekt symmetrische Form ergibt sich dadurch, dass alle sechs Seiten des Schneekristalls in der exakt gleichen Umgebung wachsen, bis die Schneeflocke nach rund 30 bis 45 Minuten fertig ist: Temperatur, Luftfeuchtigkeit. Luftdruck und Geschwindigkeit sind in diesem Prozess für alle sechs Arme exakt gleich.

Für jede einzelne Schneeflocke hingegen sind die Bedingungen einzigartig, weshalb es auch ziemlich sicher keine zwei gleichen Schneekristalle gibt: Eine "normaler" sternförmiger Schneekristall enthält nämlich etwa eine Trillion Wassermoleküle – entsprechend viele Möglichkeiten gibt es, diese in Form eines sechseckigen Sterns anzuordnen. (Klaus Taschwer, 25.12.2021)