Am 3. Oktober 1992 trat Sinéad O'Connor bei "Saturday Night Live" auf und protestierte gegen sexuellen Missbrauch in der Kirche, indem sie das Bild des Papstes vor laufender Kamera zerriss.

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"Rememberings": Sinéad O'Connors Erinnerungen im Buch.

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Auftritt beim Montreux Jazz Festival im Jahr 2015.

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Sie trägt ein weißes Kleid, Kerzen flackern im Hintergrund. Ein würdiger Anlass? Eigentlich schon. Es ist Sinéad O’Connors erster Auftritt in der berühmten" Saturday Night Live"-Show am 3. Oktober 1992. Sie performt Bob Marleys Protestsong "War". Die Kamera ist nah an ihr, ganz nah. O'Connor bringt den Song intensiv, eindringlich. Am Ende hält sie ein Foto von Papst Johannes Paul II. ins Bild – und zerreißt es: "Fight the real enemy."

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Die Szene dauert keine 20 Sekunden. Nach einer kurzen Schockstarre geht ein Aufschrei durch die westliche Welt.

Es wird heftig. Sinéad O'Connor lernt, was ein analoger Shitstorm ist. Überraschend viele fühlen sich in ihren religiösen Gefühlen verletzt. O'Connor wird öffentlich angefeindet, beschimpft, diffamiert. Joe Pesci droht ihr mit einer Ohrfeige. Die "Washington Times" nennt sie "das Gesicht des reinen Hasses", für Frank Sinatra ist O'Connor "ein dummes Weib". Auf dem Höhepunkt der öffentlichen Erregung zerstören empörte Angehörige einer Gruppe namens National Ethnic Coalition of Organizations rund 200 Alben der Sängerin, indem sie eine Dampfwalze drüberfahren lassen.

Eskalation bei Dylan-Konzert

Geradezu tragisch verläuft ein Auftritt O’Connors bei einem Konzert zu Ehren Bob Dylans, wo die Irin vom Publikum ausgebuht und ausgepfiffen wird. Bei dem Konzert sind etliche Stars vertreten, unter anderem Dylan selbst. Keiner von ihnen meldet sich zu Wort, ergreift Partei. Kris Kristofferson kommt auf die Bühne, um sie zu holen. Sie bleibt, steht minutenlang, setzt sich dem Gegröle aus – und dann singt sie noch einmal Bob Marley, "War". Die Emotionalität dieses Auftritts, die Wut, die Kraft, die Verletztheit, das Nichtzurückweichen kennzeichnen diesen Auftritt und diese Ausnahmefigur der Popkultur. Ein Tiefpunkt der Popgeschichte. Hier geschah die Misshandlung öffentlich, vor aller Augen. Bis heute ist die Aktion fest mit der Biografie der irischen Popsängerin verbunden.

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Dabei hatte die damals 25-jährige O'Connor ihren Ruf als widerständige Künstlerin schon mehrfach unter Beweis gestellt. Zwei Jahre nach ihrem größten Hit, dem Prince-Cover "Nothing Compares 2 U", verbietet sie in einem Konzert in den USA das obligatorische Abspielen der amerikanischen Nationalhymne. Sie verweigert die Annahme des Grammy, weil er nur geschäftlichen Erfolg, nicht aber künstlerische Kreativität belohnt. Sie macht öffentlich, zweimal abgetrieben zu haben, weil ein Dubliner Gericht 1992 einer 14-Jährigen die Abtreibung in England verbietet.

Mutig, oder?

Die Öffentlichkeit sieht das anders. O'Connor wird nach der Papstbild-Aktion als kranke Außenseiterin behandelt, die zu überzogenen Aktionen und Reaktionen neigt. Biografische Stationen hingegen zeigen das Bild einer sensiblen Künstlerin auf der Suche nach sich selbst. 2003 verkündet sie zum ersten Mal ihren Rückzug aus dem Musikbusiness, den sie zwei Jahre später rückgängig macht. 2011 lässt sie sich nach 16-tägiger Ehe wieder scheiden. 2012 folgt ein Suizidversuch. Eine Tournee wird wegen psychischer Probleme abgebrochen. 2015 wird sie von einem Rettungsteam aufgefunden und zur stationären Behandlung in eine Klinik in Dublin gebracht. Religion und Glaube spielen in ihrer Sozialisation eine große Rolle. 1996 lässt sie sich zur Priesterin der orthodox-katholischen und apostolischen Kirche von Irland weihen. Im Oktober 2018 konvertiert sie zum Islam und nennt sich fortan Shuhada’ Davitt, das heißt Märtyrer. Mit den Weißen wolle sie nichts mehr zu tun haben, sofern damit Nichtmuslime gemeint seien. 2021 erklärt sie ihren neuerlichen Rückzug aus dem Musikbusiness.

Punk und Protestsängerin

O'Connor verstand sich stets als Punk und protestierte gegen das Establishment. Was auch sonst? Sie wächst in einer tiefgläubigen Familie in einem Vorort von Dublin auf. Die Eltern trennen sich, als sie neun Jahre alt ist. Sinéad O'Connor bleibt bei ihrer Mutter, die sie schwer misshandelt. Im katholischen Glauben findet sie ihren Trost, Spiritualität ist ihr Lebensthema. Das Trauma aus dieser Zeit bleibt.

Den ersten Befreiungsschlag setzt sie, indem sie ihre Haare abrasiert, nachdem ein Manager ihr rät, sie solle sich weiblicher kleiden und ihr kurzgeschnittenes Haar wachsen lassen. Die erste Platte veröffentlicht O'Connor 1987, da ist sie gerade 20 Jahre alt. 1990 ist sie mit dem Prince-Cover "Nothing Compares 2 U" 52 Wochen in den US-Charts. Und erlebt die Härten des Business. In ihrem Buch "Erinnerungen" schreibt sie, dass sie mitten in den Aufnahmen schwanger wird und ihr Manager versucht, sie zu einer Abtreibung zu zwingen, was sie ablehnt. Mittlerweile hat sie vier Kinder.

In der Falle

Sie habe sich in einer Falle gefangen gesehen, sagt O'Connor: "Die Medien hielten mich für verrückt, weil ich mich nicht so verhielt, wie es von einem Popstar erwartet wurde", sagt sie in einem Interview mit der "New York Times". "Ich habe den Eindruck, dass man als Popstar fast wie in einer Art Gefängnis sitzt. Man muss ein braves Mädchen sein."

"Brav sein" wurde von Frauen offenbar mehr erwartet als von Männern. Bis heute fällt deren Bewertung insgesamt unterschiedlich aus, sehen sich Frauen, die in der ersten Reihe stehen, strengeren Urteilen ausgesetzt. Beispiel: Während Prince bis heute als exzentrisches Genie im positiven Sinne gilt, wird Sinéad O'Connor zwar als großartiges Gesangstalent gehandelt, aber eben auch als arme Verrückte.

Kampf mit Prince

Ausgerechnet Prince. Wie der 2016 verstorbene Popstar mit O'Connor bei der ersten und einzigen persönlichen Begegnung umging, beschreibt die Irin ebenfalls in dem Buch: Prince habe sie in seine Hollywood-Villa bestellt, sie für Flüche in Interviews getadelt und seinen Butler – Prince' Bruder, wie sich später herausstellte – beauftragt, Suppe zu servieren, obwohl sie sich wiederholt geweigert habe. Anschließend habe er ihr eine Kissenschlacht vorgeschlagen, nur um sie dann mit etwas Hartem zu schlagen, das er in seinen Kissenbezug gesteckt hatte. Schließlich flüchtete O'Connor mitten in der Nacht zu Fuß, Prince verfolgte sie mit seinem Auto, sprang heraus und jagte sie über die Autobahn. Völlig irre.

"Man muss verrückt sein, um Musiker zu sein", sagt O'Connor dazu. "Aber es gibt einen Unterschied zwischen verrückt sein und einem gewalttätigen Missbrauch von Frauen."

Mehrheitlich zustimmende Kommentare

Die Zeiten haben sich geändert. Mittlerweile wird Sinéad O'Connors Auftritt anders bewertet. Unter dem Youtube-Video von 1992 stehen mehrheitlich zustimmende Kommentare. Der sexuelle Missbrauch von Kindern und seine Vertuschung innerhalb der katholischen Kirche sind kein Geheimnis mehr. Johannes Paul II. erkannte die Rolle der Kirche erst 2001 an, fast ein Jahrzehnt nach O'Connors Protestaktion, aber er tat es.

Sinéad O'Connor lebt heute allein und zurückgezogen in Irland. In dem Interview mit der "New York Times" wirkt sie mit ihren 55 Jahren zufrieden, gut gelaunt und voll guten schwarzen irischen Humors. Sie sei nicht sehr erfolgreich darin, eine gute Freundin oder Ehefrau zu sein, sagt sie: "Seien wir ehrlich: Ich bin ein bisschen anstrengend."

"Sie trägt ihr Herz auf der Zunge", sagt der Produzent David Holmes über Sinéad O'Connor. Ihr neues Album "No Veteran Dies Alone" erscheint demnächst. Danach will sie sich endgültig aus dem Popbusiness zurückziehen. Wieder einmal endgültig. Hoffentlich überlegt sie es sich noch einmal. (Doris Priesching, 7.1.2021)