Mit Strickmütze und unkonventionellen Erziehungsmethoden führt Lehrer Bachmann seine Schüler aus diversen Ländern spielerisch zum Abschluss – Maria Speths Kamera ist dabei.

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Bevor in aller Herrgottsfrüh der Unterricht beginnt, fragt der Lehrer in die Runde der 6b, wer noch müde sei. Natürlich fast alle. Also senken die 19 Schülerinnen und Schüler noch einmal zwei Minuten ihre Köpfe auf das Pult. Das ist der erste kleine Regelbruch, den man von Herrn Bachmann, dem Lehrer in der Georg-Büchner-Gesamtschule im hessischen Stadtallendorf, zu sehen bekommt. Ein Ritual, das die Zwölf- bis 14-Jährigen entspannen lässt. Ohrenreiben hilft auch, es steigert angeblich die Gehirnaktivität, sagt er an anderer Stelle.

Filmgarten

Bachmann, Mitte 60, steht kurz vor der Pensionierung. Er trägt Strickmütze, Hoodie und darüber ein AC/DC-T-Shirt. "Alternativ", hätte man früher wohl gesagt, als das Wort noch unschuldig war, ist der Stil seiner Pädagogik: Zuhören, in konstruktiven Dialog treten, das Problem ergründen, all dies ist wichtiger als Frontalunterricht. Noten hält Bachmann für ein notwendiges Übel, wie er einmal erklärt; wichtiger ist ihm, auf die Bedürfnisse jedes Einzelnen einzugehen. In seiner Klasse wird man wie ein Individuum behandelt. Kann das überhaupt funktionieren?

Herr Bachmann und seine Klasse vermittelt in 217 Minuten, die nie langweilig sind: ja, sogar sehr gut. Maria Speths außergewöhnlichem Dokumentarfilm, auf der Berlinale mit dem Preis der Jury prämiert, geht es jedoch in erster Hinsicht gar nicht um ein politisches Argument. Die Stärke des Films liegt im Zeigen, nicht im Missionieren. Es handelt sich deshalb auch um keine Utopie, wie mancherorts schon zu lesen war, sondern um ein Beispiel dafür, dass inmitten der Realität schon Vorbilder zu finden sind.

Musik als Teambuilding

19 Schüler aus zwölf Nationen in einer Klasse, die trotz auch auszuagierender Unterschiede (und kleinerer Konflikte) eine Gemeinschaft bilden. Musik spielt bei Bachmann, der selbst gern Gitarre spielt, eine wesentliche Rolle im Unterricht. Die Klasse sieht einem Proberaum ähnlich, überall stehen Instrumente herum. Jeder bringt hier seine Fähigkeiten in eine universelle Sprache ein, die selbst die Zögerlicheren in die Gruppe integriert. Und wenn Smoke on the Water oder ein anderer Song einmal nicht genug "antörnt", wird eben dieses Wort erklärt.

Um eine Problemschule oder einen "sozialen Brennpunkt" handelt es sich schon deshalb nicht, weil das kleinstädtische Stadtallendorf eine lange Geschichte der Zuwanderung aufweist. Während des Nationalsozialismus dienten Fabriken vor Ort der Munitionsproduktion, für die Zwangsarbeiter und KZ-Gefangene rekrutiert wurden; nach dem Krieg siedelten sich Unternehmen an, die ab den 1960er-Jahren besonders auf die billige Hand von Gastarbeitern setzten.

Die Schule ist ein Abbild dieser Durchmischung: vom Bulgaren Ilknur über den marokkanischen Ayman bis zu Stefi aus Rumänien, die am kürzesten dabei ist und noch brüchiges Deutsch spricht (was sie aber nicht daran hindert, lautstark am Unterricht zu partizipieren).

Die Dynamiken, die sich aus diesen Zusammensetzungen ergeben, bleiben im Film zu jedem Zeitpunkt spürbar, sind aber organisch in den Schulalltag eingewoben. Einmal wird beispielsweise über die Frage diskutiert, ob sich die Schüler stärker ihrem Herkunftsland oder doch Deutschland zugehörig fühlen. (Antwort: die meisten tendieren, familiär bedingt, zu Ersterem).

Ein anderes Mal geht es um Auffassungen von den Pflichten von Mann und Frau oder darum, was man von gleichgeschlechtlicher Zuneigung hält (Antworten ausgewogen, aber einige finden es "eklig"). In beiden Fällen öffnet sich der Klassenraum zum Diskursfeld. Um das Hin und Her mitsamt der sanften pädagogischen Lenkung zu zeigen, braucht es Zeit – nicht nur deswegen, weil manchen die Begriffe im Deutschen fehlen.

Schüler im Mittelpunkt

Dabei verändert, ja verschiebt sich der Fokus des Films. Denn neben Bachmann werden die einzelnen Schüler zu immer markanteren Protagonisten. Das sieht man vor allem an jenen Jugendlichen, denen ansonsten kaum ein Film so nahe zu rücken versteht wie dieser: zum Beispiel die aus streng gläubigem Hause kommende Ferhan, die melancholisch in sich versunken mit Kopftuch in der Klasse sitzt, sich dann aber doch punktuell offener zeigt.

Aufgrund der alerten Kamera von Reinhold Vorschneider, einem schon längeren Weggefährten Speths, fühlt man sich als Zuschauer selbst wie ein Schüler, der mit der Zeit immer mehr über seine Kameraden herausfindet – manchmal passieren im selben Bildausschnitt mehrere Dinge zugleich, etwa wenn sich weiter hinten in der Reihe zwei Burschen über ein missverständliches Wort zerkugeln.

Speth hat aus rund 200 Stunden Material, das sie nach einem halben Jahr Dreh gesammelt hatte, eine dramaturgische Form komprimiert, die zugleich verdichtet wie luftig erscheint. Das Verbindende bildet am Ende weniger die Chronologie des Schuljahres als das bedingungslose Vertrauen, das ein Lehrer seinen Schülern schenkt; und das diese auf ungemein vielfältige Weise zurückspiegeln, auch wenn es manchmal einen Ordnungsruf braucht. Keine heile Welt, aber eine, in der es sich zu leben lohnt. (Dominik Kamalzadeh, 14.12.2021)