Die Raumsonde Voyager 1 (hier in künstlerischer Darstellung) ist jenes Objekt, das wir am weitesten von der Erde wegbefördert haben. Zählt sie schon als Weltraummüll?
Bild: Nasa / AFP Photo

Eigentlich hätte Alice Gorman gern Astrophysik studiert. Dem Rat ihres Umfelds entsprechend, schlug die Australierin aber die Laufbahn zur Archäologin ein – immerhin ihre zweite Leidenschaft. Heute vereint sie beide Gebiete: Gorman analysiert die Geschichte und die materielle Kultur des Weltraumzeitalters.

Dabei lässt sich das Thema Weltraummüll nicht umschiffen und sorgte für ihren beruflichen Spitznamen, den sie in den Titel ihres biografisch gefärbten Sachbuchs "Dr Space Junk vs The Universe: Archaeology and the Future" aufnahm. Der Asteroid, der in diesem Jahr nach ihr benannt wurde, trägt allerdings ihren Nachnamen.

Weltraumarchäologin Alice Gorman.
Foto: Daniel Kukec

STANDARD: Die meisten Archäologinnen und Archäologen beschäftigen sich mit Objekten von Menschen, die bereits seit langer Zeit tot sind. Befinden sich im Weltraum eigentlich die Überreste verstorbener Personen, wenn man von Aschebestattungen im All absieht?

Gorman: Soweit ich weiß, nein. Es gab auf jeden Fall Tode, die mit Weltraumflügen in Zusammenhang standen. Darunter fallen das schreckliche Apollo-1-Feuer am Boden und die beiden Space-Shuttle-Unfälle von Challenger und Columbia in der Atmosphäre. Drei russische Kosmonauten sind wahrscheinlich im All verstorben, aber ihre Körper wurden aus der zur Erde zurückgekehrten Kapsel geborgen.

STANDARD: Wenn man sich das bei Tieren überlegt, ist zumindest die Hündin Leika im All gestorben.

Gorman: Ja, da gibt es etliche – eine Vielzahl an Fruchtfliegen, Schildkröten, Katzen, Ratten und Affen wurde ins All geschickt, viele kamen heil zurück, andere nicht. Ob sie noch im Orbit sind, ist eine gute Frage. Wahrscheinlich sind sie es nicht mehr, weil die meisten Missionen niedrige Umlaufbahnen betreffen. Diese Raumfahrzeuge werden allmählich in die Atmosphäre zurückgezogen und verbrennen dann. Es dürften aber beispielsweise einige tote Kakerlaken unterwegs sein. Und dann gibt es natürlich noch die Bärtierchen auf dem Mond, die eigentlich nicht tot, aber in Harz eingeschlossen sind. Von selbst können sie ihr Ruhestadium also nicht verlassen. Bewusst haben wir keine Lebewesen zu den Planeten Mars und Venus oder darüber hinaus geschickt, auch wenn wohl ein paar Mikroben mitgereist sind. Ich würde sagen, die Biosphäre – oder die Thanatosphäre, die Sphäre des Todes – ist nur auf der Erde und dem Mond.

STANDARD: Wie weit haben wir menschengemachte Objekte bereits im Weltraum verteilt?

Gorman: Das am weitesten entfernte Objekt ist die Nasa-Raumsonde Voyager 1, die 1977 startete. Wenn man unser Sonnensystem durch den Einfluss der Sonne definiert, der an einem gewissen Punkt hinter Pluto endet, dann befindet sich die Sonde – wie auch Voyager 2 – außerhalb. Derzeit ist Voyager 1 etwa 23 Milliarden Kilometer von uns entfernt. Das bedeutet, dass mindestens das gesamte Sonnensystem ein menschlicher Ort ist.

STANDARD: Nicht alle Sonden und Satelliten im All sind funktionstüchtig, manche werden als "tot" bezeichnet. Warum sprechen wir hier von toten und lebendigen Objekten?

Gorman: Manche sagen, wir sollten Robotern und Maschinen keine menschlichen Eigenschaften verleihen. Ich denke, das lässt sich nicht vermeiden – und es liefert uns eine Verbindung zu den Orten, an die wir die Objekte schicken.

STANDARD: Was genau macht Weltraummüll aus?

Gorman: Das ist gar kein einfaches Konzept. Müll gilt als nutzlos, kaputt, weggeworfen. Aber die Kategorisierung als tot und nutzlos trifft nicht immer zu. Viele aufgegebene Raumfahrzeuge sind streng genommen nicht kaputt. Sie werden nur nicht genutzt. Hier kommt auch eine ökologische Verantwortung ins Spiel.

STANDARD: Man könnte manches also wiederverwenden oder recyceln?

Gorman: Ja. Eine Idee ist, Weltraummüll als Treibstoff zu verwenden. Das wäre technologisch komplex, aber durchaus möglich. Raumschiffe müssten nicht ihren gesamten Sprit von der Erde mitbringen.

STANDARD: Sie beschäftigen sich auch mit kulturellen Werten. Was macht einen Gegenstand im All zu einem wertvollen Artefakt?

Gorman: Ein nützliches Objekt muss nicht unbedingt eine technologische Funktion erfüllen, sondern kann auch soziale Funktionen haben. Ein Beispiel dafür ist der erste indonesische Satellit, Palapa-A1. Er wurde zur Telekommunikation verwendet. Zugleich sollte er den Menschen aller indonesischer Inseln und Sprachgruppen Verbundenheit vermitteln. Obwohl seine Technologie nicht mehr verwendet wird, ist er noch immer ein Symbol der Einheit.

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Shiny Marble: Der Nasa-Satellit Lageos 1 besitzt 426 Reflektoren, die Laserstrahlen zurückwerfen. So werden seit seinem Start im Jahr 1976 unter anderem tektonische Plattenbewegungen gemessen. Seine "Lebensdauer": acht Millionen Jahre.
Foto: Nasa/Reuters

STANDARD: Man könnte argumentieren, dass etwa die glänzenden Lageos-Satelliten auch einen ästhetischen Wert haben.

Gorman: Sie sehen tatsächlich wie Schmuckstücke aus. Dabei entspricht ihr Design aus den 70ern ihrer Funktion, von jeder Seite einen Laserstrahl reflektieren zu können. In den ersten Jahrzehnten der Raumfahrt waren die Typen unglaublich unterschiedlich, wie ein ganzes Ökosystem der Weltraumroboter-Biodiversität.

STANDARD: Wie werden wir entscheiden, was Müll ist und was wir behalten wollen?

Gorman: Hier geht es um Kulturerbe im Weltraum. Ich glaube, wir brauchen quasi ein Umweltmanagement für den Erdorbit: Wenn ein alter Satellit entfernt werden soll, müssen wir seine Bedeutsamkeit einschätzen. Ist etwa das Kollisionsrisiko gering und der Wert hoch, sollten einzelne Objekte bleiben.

STANDARD: Es gibt auch die Idee eines Museums im All, an einem der Lagrange-Punkte, an denen leichte Körper relativ stabil auf einer eingeschränkten Position verbleiben.

Gorman: Das wäre eine gute zweite Option – man müsste sich Gedanken um Kuratierung und etwaige Besuche machen. Viele sagen, wertvolle Objekte sollten wir auf der Erde in Museen ausstellen. Allerdings gehört zur kulturellen Bedeutung oft auch der Verbleib am Ort. Der Forschungssatellit Vanguard 1 ist seit mehr als 60 Jahren im Erdorbit und dort damit das älteste menschliche Objekt. Entfernen wir ihn, ist er das aber nicht mehr.

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Die deutsche "Vergeltungswaffe 2" (V2), die ursprünglich "Aggregat 4" hieß, erreichte 1944 als erstes Objekt den Bereich, der als Weltraum gilt – obwohl eine fixe Grenze zur Erdatmosphäre nicht festgesetzt ist. Ihre Form mit den typischen Flossen wurde zum Symbol für Raumfahrt, obwohl entsprechende Raketen bald andere Formen annahmen.
Foto: Arnd Wiegmann / Reuters

STANDARD: Die Raumfahrt steht angesichts der Klimakrise in der Kritik – vom Emissionsausstoß der Raketen bis hin zum Weltraumschrott.

Gorman: Zunächst sind Daten, die wir dank Satelliten besitzen, essenziell für das Verständnis des Klimawandels. Außerdem ist die Erkundung des Alls wichtig, mittels deren wir unseren Platz im Kosmos verstehen. Aber: In den kommenden zehn Jahren werden wahrscheinlich 100.000 neue Satelliten auf erdnahe Umlaufbahnen gebracht. Das wird die Umwelt zwischen Erde und All beeinflussen. Die Frage ist: Brauchen wir all diese Satelliten?

STANDARD: Was ist Ihre Antwort?

Gorman: Wir gehen hier zu weit. Eine Megakonstellation an Satelliten, wie sie durch Elon Musks Starlink-Projekt entsteht, ist nicht die einzige Möglichkeit, die Welt zu vernetzen. Die angekündigte Internetleistung könnte auch Infrastruktur auf der Erde liefern. Die Entwicklung ist also nicht zwangsläufig.

STANDARD: Weshalb bewegen wir uns trotzdem in diese Richtung?

Gorman: Die meisten in der Raumfahrt-Community akzeptieren blind die Ideologie des hyperkapitalistischen Ansatzes. Das Problem wird nicht staatlich, sondern durch private Betreiber geregelt. Wir stehen vor einer Umweltkrise auf der Erde und im Erdorbit, und die Mächtigen tun nicht genug, um sie zu verhindern. Ausfallende Satelliten werden die Mengen an Weltraummüll enorm steigern. Einige Fachleute sagen, wir müssen dringend Weltraumschrott entsorgen, sonst wird der Orbit unbenutzbar. Gleichzeitig erteilt man weitere Genehmigungen für Megakonstellationen.

STANDARD: Welche Konsequenzen hat beispielsweise die Lichtverschmutzung, die dadurch zu erwarten ist?

Gorman: In der optischen Astronomie sind Beobachtungen jetzt schon schwierig. Hier wird unter anderem nach Objekten gesucht, die mit der Erde kollidieren könnten – dafür sollten wir uns also interessieren. Zudem verändert sich die menschliche Wahrnehmung des Nachthimmels: Bald wird einer von 15 Lichtpunkten von einem Satelliten oder einem anderen künstlichen Flugkörper im All stammen.

STANDARD: Welche Projekte stehen bei Ihnen noch auf der To-do-Liste?

Gorman: Ich würde gerne verhindern, dass der Mond in Zukunft durch Bergbau zerstört wird. In diesem Jahr hat eine Interessensgruppe eine Erklärung der Rechte des Mondes verfasst – etwas, das ich in dieser Debatte für essenziell halte. Ich möchte einen Ausgleich zur dominanten Denkweise in der Raumfahrt-Community liefern, die den Mond als tote Welt betrachtet, der gegenüber wir keine moralische Verpflichtung haben. (Interview: Julia Sica, 1.1.2022)

Alice Gorman bei einem TEDx-Talk in Sydney.
TEDx Talks