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Der britische Aufruf wirkt: In London bildeten sich am Dienstag lange Warteschlangen für Booster-Impfungen, die vor Omikron gut schützen – laut vorläufigen Zahlen zu rund 70 Prozent vor symptomatischen Infektionen. Laut einer neuen Studie werden die Neutralisationsaktivitäten gegen Omikron sogar um das 100-Fache gesteigert.

Reuters / Toby Melville

Es sind wieder einmal Horrorzahlen, mit denen Experten und Politiker in verschiedenen Ländern der Welt gerade operieren. Das liegt an Omikron, jener Virusvariante, die erst vor drei Wochen entdeckt worden ist und sich nun rasant rund um den Globus ausbreitet. "Jetzt ist es ernst", sagte Norwegens Ministerpräsident Jonas Gahr Støre am Montagabend.

Norwegens Gesundheitsbehörden verlauteten am Montagabend auf Basis von Modellrechnungen, dass Omikron in drei Wochen im Extremfall 90.000 bis 300.000 Menschen pro Tag infizieren könnte, wenn keine Gegenmaßnahmen gegen die neue Virusvariante ergriffen würden. Zum Vergleich: Aktuell sind es in Norwegen mit 5,4 Millionen Einwohnern rund 5.000 Neuinfektionen täglich – das ist auch der Höchstwert seit Beginn der Pandemie.

Das norwegische Institut für öffentliche Gesundheit errechnete, dass es wegen Omikron zu 50 bis 200 Krankenhauseinweisungen pro Tag kommen könnte. Das würde mittelfristig die Kapazitäten sprengen, weshalb man am Montagabend eine Reihe von Restriktionen beschloss. So darf in den nächsten Wochen kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden. Und zur Verabreichung der Booster-Impfungen wurde das Militär engagiert.

Alarmistische Zahlenartefakte?

Sind solche Zahlen tatsächlich realistisch oder nur alarmistische Artefakte von Modellrechnern? Wie reagiert man in anderen Teilen der Welt auf die Bedrohung durch Omikron? Modellrechnungen fallen je nach den Annahmen, mit denen man das Modell füttert, naturgemäß sehr unterschiedlich aus. Bei den Hochrechnungen der Infektionsfälle ist die entscheidende Frage, in welchem Zeitraum sich die Zahl der Omikron-Fälle verdoppelt.

Epidemiologen schätzen diesen Zeitraum zurzeit auf nur zwei bis vier Tage, basierend unter anderem auf den Zahlen in Südafrika, Dänemark oder Großbritannien. In Dänemark hat man dank hervorragender Test- und Sequenzierkapazitäten den besten Überblick über das Ausbreitungstempo der Virusvariante. Dort entdeckte man am 3. Dezember die ersten Omikron-Fälle, die auf den 23. November zurückgingen. Bereits diese Woche, also drei Wochen später, wird Omikron Delta bei den Neuinfektionen vermutlich überflügeln.

In der folgenden Nachricht weist der dänische Sequenzier-Experte Mads Albertsen aber auch darauf hin, dass zu Beginn der extrem schnellen Ausbreitung Super-Spreader-Ereignisse ("co-founding effects") zusätzlich beschleunigend gewesen sein dürften. Denn zuletzt nahm die Ausbreitungsgeschwindigkeit von Omikron deutlich ab:

Aktuell hält man in Dänemark mit 5,8 Millionen Einwohnern beim Rekordwert von 7.800 Neuinfektionen täglich, ein rascher weiterer Anstieg wird befürchtet.

Ähnlich ist die Entwicklung in Teilen Großbritanniens, insbesondere im Großraum London. Für Großbritannien sehen die aktuellen Prognosen düster aus – bei der Annahme, dass die Verdopplung der Fälle weiterhin nur drei Tage braucht:

Mehr Infektionen wiegen schwerer

Die Infektionszahlen sind das eine, die Anzahl der schweren Fälle, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, das andere. Nach wie vor besteht die berechtigte Hoffnung, dass die Verläufe bei Omikron milder sind – laut neuen Daten aus Südafrika um 29 Prozent leichter als bei der ersten Welle mit dem "Wildtyp" von Sars-CoV-2. Dänemark meldet aktuell 28 Hospitalisierungen mit Omikron, was zwar einer ähnlichen Rate wie bei früheren Varianten (0,7 bzw. 0,8 Prozent der Infektionsfälle) entspräche:

Allerdings sind die Zahlen für verlässliche Aussagen noch viel zu gering. Zudem dürften einige der 28 Ansteckungsfälle erst im Spital passiert sein.

Sollte Omikron tatsächlich harmloser sein, sollte das jedoch nicht zu falschen Schlüssen verleiten: Denn ist eine Variante doppelt so infektiös, aber nur halb so tödlich, führt das kurz- und mittelfristig dennoch zu viel mehr Toten – einfach aufgrund der Fallzahlen, die erreicht werden können, wenn nichts dagegen unternommen wird. In Großbritannien geht man wegen der hohen Infektiosität Omikrons von bis zu 30 Millionen Neu- und Re-Infizierten aus. Sollten nur 0,3 Prozent hospitalisiert werden, wären das 90.000 Personen.

Verschärfte Maßnahmen

Norwegen, Dänemark, Großbritannien und viele andere Länder haben ihre Maßnahmen bereits wieder verschärft, wobei etwa jene in Großbritannien nach wie vor viel lockerer sind als in Österreich. Gemeinsam ist aber allen Ländern, dass die Booster-Impfung als besonders wichtig erachtet wird, da sie den Schutz vor symptomatischen Omikron-Infektionen wieder auf rund 75 Prozent erhöht. Laut einer neuen Studie steigert der Booster die Neutralisationsaktivität gegen Omikron gar um das 100-Fache.

Sehr viel strenger bei den Maßnahmen ist man in China, wo besonders viel auf dem Spiel steht: nicht nur die erfolgreiche rigorose Pandemiepolitik, sondern auch die Olympischen Winterspiele im Februar. So hat man in der Provinz Zhejiang, einer der wirtschaftsstärksten des Landes, wegen 44 neuer Infektionsfälle eine halbe Million Menschen unter Quarantäne gestellt. Hunderte Flüge wurden vorsorglich gestrichen. Das nährt Befürchtungen, dass es zu größeren Produktionsausfällen kommen könnte.

Die drohen aber natürlich auch in Europa durch Quarantäne und Krankenstände, wenn die Fallzahlen weiter so stark steigen. Österreich hat zum Glück aufgrund des Lockdowns einen Omikron-Zeitvorsprung. Mögen wir ihn nicht zu rasch verspielen. (Klaus Taschwer, 15.12.2021)