Annemarie Schlack (Amnesty International Österreich) und Sophie Lampl (Greenpeace) fordern eine rasche Entschuldigung der Stadt Wien für die Klagsandrohungen, die via Anwaltskanzlei an zahlreiche Menschen bezüglich des Protests in der Lobau verschickt wurden.

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Nachdem die Kanzlei des ehemaligen SPÖ-Abgeordneten Hannes Jarolim Ende der vergangenen Woche mehrere Briefe verschickt hat, in denen mögliche Schadenersatzklagen der Stadt Wien angekündigt werden, übten Greenpeace und Amnesty International am Mittwoch scharfe Kritik. Wie berichtet richteten sich die Schreiben unter anderem an Kinder beziehungsweise Jugendliche, an Verkehrsexperten und an Menschen, die nie bei dem Protestcamp in der Lobau vor Ort waren.

Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) sagte am Mittwochmittag, er sei "jederzeit zu einem inhaltlichen Gespräch bereit" und sei das auch immer gewesen – "vom ersten Tag an". Aktivistinnen berichteten hingegen davon, dass die Stadt auf Gesprächsanfragen nie eingegangen sei. Auch eine Anfrage von Amnesty sei bislang nicht beantwortet worden.

Amnesty sieht menschenrechtlichen Skandal

Annemarie Schlack, Geschäftsführerin von Amnesty International in Österreich, sprach von einer Menschenrechtsverletzung. "Was sich wie ein Skandal anhört, ist auch einer. Nicht nur ein zivilgesellschaftlicher, sondern ein menschenrechtlicher." Die Schreiben seien als sogenannte Slapp-Klagen zu qualifizieren. Der Begriff steht im Englischen für "strategic lawsuit against public participation" und beschreibt einen Schlag ins Gesicht für Einzelpersonen, aber auch für zivilgesellschaftliches Engagement insgesamt. Laut Schlack dienen solche Klagen beziehungsweise Klagsandrohungen dazu, Menschen und Organisationen einzuschüchtern. "Es geht immer darum, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen und Personen, die sich kritisch zu etwas äußern, zum Verstummen zu bringen."

Recht auf freie Meinungsäußerung verletzt

Man erlebe diese Strategie bei Amnesty überall auf der Welt. Teilweise führe das auch dazu, dass zivilgesellschaftliches Engagement insgesamt zum Erliegen komme. "Dass wir es einmal mit einem Fall zu tun haben, den die Stadt Wien zu verantworten hat, hätte ich mir nie vorstellen können", sagt Schlack. Die Stadt versuche ihren wirtschaftlichen Vorteil auszunutzen. Es handle sich aber ganz klar um eine "unverhältnismäßige Maßnahme" und um eine Verletzung des Rechts auf freie Meinungsäußerung, das sei nicht nur ein Menschenrecht, sondern habe in Österreich auch Verfassungsrang.

Keine Antwort auf Terminanfrage

Von der Stadt verlangt Amnesty nun einerseits Aufklärung, wie die Kanzlei an Privatadressen der angeschriebenen Personen gekommen ist. "Der Umgang mit Daten hier ist besonders besorgniserregend." Außerdem habe man bereits Anfang der Woche um einen persönlichen Termin mit der Stadtregierung gebeten, bisher habe es aber keine Antwort von Bürgermeister Michael Ludwig (SPÖ) oder seinem Vize Christoph Wiederkehr (Neos) gegeben. Schlack: "Wir erwarten eine Rücknahme der Klagsdrohungen und die schleunigste Rückkehr zu sachlichem Dialog."

Greenpeace will öffentliche Entschuldigung

Eine Rücknahme der Klagen fordert auch Sophie Lampl, Direktorin für Kommunikation und Kampagnen bei Greenpeace. Die Stadt habe dafür nun 48 Stunden Zeit – was passiere, wenn Ludwig nicht reagiere, "werden wir dann sehen", sagte Lampl. Auch eine öffentliche Entschuldigung sei dringend notwendig. "Wenn man sich bewusst macht, was da eigentlich passiert ist, wird einem ganz anders. Hier wurden Bürgerrechte mit Füßen getreten." Dass es um Einschüchterung gehe, sei ja bereits aus den Aussagen der Kanzlei hervorgegangen. Gegenüber Medien hieß es da, dass "mentale Unterstützer" angeschrieben wurden. Dafür seien Menschen, Kinder auf Social Media durchleuchtet worden.

Kritik an Rot und Pink

"Anstatt Anliegen ernst zu nehmen, kanzelt Ludwig die Jugend ab. Er hat auf stur geschaltet und hält an seiner Betonpolitik fest", so Lampl. Dieselbe Sozialdemokratie, die vor wenigen Monaten noch gegen Einschüchterungsklagen ins Feld gezogen sei, mache jetzt genau das. "Aber auch die Neos haben es noch immer nicht geschafft, Stellung zu nehmen und sich klar von dieser Vorgehensweise zu distanzieren. Das ist eine Schande für eine Partei, die für Bürgerrechte eintreten will."

Was Aktivistinnen sagen

An der Pressekonferenz nahmen auch drei Aktivistinnen teil, die jeweils Briefe bekommen haben: Mirjam Hohl von Fridays for Future, Lena Schilling vom Jugendrat und Lucia Steinwender von System Change Not Climate Change. Alle drei betonten, mit ihrem Engagement weiterzumachen und sich durch die Schreiben nicht einschüchtern zu lassen.

"Ich engagiere mich seit einem Jahr, weil ich das Gefühl habe, ich muss. So geht es den meisten von uns. Wir haben Angst wegen der Zukunft", sagt Hohl. "Wenn Ludwig argumentativ am Ende ist, und das ist er, will er uns mundtot machen. Ihm geht es um eine Straße, uns geht es um die Zukunft des Planeten, ums Überleben. Wir lassen uns nicht einschüchtern. Wir streiken, bis ihr handelt."

Gesprächsangebote gingen ins Leere

Schilling wies darauf hin, dass es mehrere Möglichkeiten für Gespräche gegeben hätte. "Wir haben das immer wieder angeboten. Ich finde Klagsdrohungen nicht besonders zivilisiert."

"Wenn meine Oma mich besorgt anruft, weil sie in der Zeitung liest, dass ich für 22 Millionen haften soll, bekomme ich Angst. Aber vor allem bekomme ich eine Riesenwut. Ein System, das Klimaschutz zum Verbrechen macht, kann kein gerechtes sein", sagte Steinwender. Gerade die SPÖ müsse doch wissen, "dass Gesetze nicht vom Himmel gefallen sind, sondern von der Zivilgesellschaft erkämpft werden".

Die drei Frauen wiesen außerdem darauf hin, dass die Argumentation der Stadt, dass in der Gegend 60.000 Wohnungen gebaut werden sollen und die an der Stadtstraße hängen, fehlerhaft sei. "Es ist ein Skandal, wie die SPÖ immer wieder versucht, Sozialpolitik und Klimapolitik gegeneinander auszuspielen", sagt Hohl. Beides gehe Hand in Hand. Steinwender beschrieb den Autobahnausbau als "antisozial".

Verkehrsexpertin sieht "fehlerhafte" Kommunikation der Stadt

Zu der Wohnungsthematik äußerte sich auch Barbara Laa von der TU Wien – sie forscht und lehrt im Forschungsbereich für Verkehrsplanung und Verkehrstechnik –, die ebenfalls einen Brief der Anwaltskanzlei bekam. "Warum, ist mir nach wie vor schleierhaft. Ich vermute, weil ich auf Social Media immer wieder auf falsche und irreführende Informationen der Stadt zum Lobautunnel hingewiesen habe." Einschüchtern lasse sie sich dadurch aber nicht. Die 60.000 Wohnungen seien eine weitere fehlerhafte Info. Die Stadt habe überhaupt keine Rechtssicherheit, dass diese Wohnungen gebaut werden können, weil die diesbezüglichen Verfahren noch gar nicht abgeschlossen seien. "Wir sind uns alle einig, dass es leistbaren Wohnraum braucht. Aber dafür braucht es keine Straßen in der Dimension einer Autobahn", so Laa.

Mysteriöse Stornierungen bei Südwind

Auf dem Podium saß am Mittwoch auch Konrad Rehling, Geschäftsführer von Südwind. Ein Mitarbeiter des Magazins habe ebenfalls Anwaltspost erhalten. In "Südwind-Magazin" habe man das Thema immer wieder aufgegriffen. "Wie jetzt mit jungen Menschen umgegangen wird, das ist nicht unser Politikverständnis. Die Politik auf höchster Ebene muss die Sorgen der jungen Menschen endlich ernst nehmen", forderte er.

Südwind gab am Dienstag bekannt, dass vergangene Woche "ein größerer politischer Player" 100 "Südwind-Magazin"-Jahresabos storniert habe. Ob es die SPÖ war, wollte Rehling aus datenschutzrechtlichen Gründen am Mittwoch nicht sagen. In den entsprechenden Abteilungen der Stadt sind laut STANDARD-Infos jedenfalls keine Stornierungen passiert. Im Tweet von Südwind hieß es am Dienstag: "Ob wir ihnen zu kritisch waren, wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass uns als gemeinnütziger Organisation 100 Abo-Kündigungen wirklich treffen." (Lara Hagen, 15.12.2021)