Servus-TV-Motorsport-Experte Christian Klien hält nichts von einer Paragrafenreiterei.

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Das Finaldrama zwischen Max Verstappen und Lewis Hamilton sorgt nach wie vor für Diskussionsstoff. Für Ex-Pilot und Servus-TV-Motorsport-Experte Christian Klien hatte Rennleiter Michael Masi keine Wahl in seinen Entscheidungen, von einer Paragrafenreiterei hält der 38-Jährige nichts.

STANDARD: Mit Abstand und Zeit zum Reflektieren: Wie beurteilen Sie die engste Entscheidung in der Geschichte der Formel 1?

Klien: Es war ein Wahnsinnsfinale, ein Drehbuch hätte man nicht besser schreiben können. Der Unfall von Nicholas Latifi hat die Karten noch einmal neu gemischt, ausschlaggebend für den Sieg war aber die schnelle Reaktion von Red Bull, Verstappen noch einen neuen Reifensatz aus der Box holen zu lassen.

STANDARD: Safety-Car bedeutet: Nach einem Unfall verliert der Führende seinen Vorsprung. Gäbe es Alternativen?

Klien: In diesem Fall wäre die Alternative ein Rennabbruch gewesen. Natürlich ist dann auch der Vorsprung weg. Dann hätte es noch einmal einen stehenden Start gegeben. Man hätte auch hinter dem Safety-Car ins Ziel fahren können, aber ich glaube, das wäre nicht im Sinne des Sports gewesen. Obwohl Hamilton den Titel genauso verdient gehabt hätte. Aber ich glaube, niemand hätte sich gewünscht, dass so eine spannende Saison hinter dem Safety-Car zu Ende gefahren wird.

STANDARD: Es durfte sich nur ein Teil des überrundeten Feldes – die fünf Fahrer, die zwischen Hamilton und Verstappen lagen – zurückrunden, obwohl die Regeln klar besagen, dass ausnahmslos jeder Pilot die Chance dazu bekommen muss. Auch Sebastian Vettel übte Kritik, fand die Entscheidung "komisch".

Klien: Wenn man das Reglement komplett auseinandernimmt, dann wird es eine Paragrafenreiterei. Es war eine Entscheidung im Sinne des Sports und der Spannung, das Rennen am Ende noch einmal freizugeben. Eines ist aber klar: Das Reglement kann nicht alle Szenarien abdecken, die es im Rennsport gibt. Das Problem war, dass Rennleiter Masi die Zeit ausgegangen ist. Es waren keine Runden mehr übrig, um das Problem laut Reglement richtig zu lösen. Hätte es drei Runden mehr gegeben, wäre das Ergebnis aber dasselbe gewesen.

STANDARD: Auch das Safety-Car, dass in derselben Runde des "Zurückrundens" zurück in die Boxengasse abbog, sorgte für Kritik. Laut Reglement muss das sortierte Feld nämlich eine weitere komplette Runde hinter dem Safety-Car absolvieren, bevor das Rennen wieder freigegeben wird.

Klien: Das ist richtig. Man muss deshalb auch den Protest von Mercedes verstehen. Masi blieb aber in diesem Fall nichts anderes übrig, er wird wohl auch einen Druck der Formel-1-Eigentümer gespürt haben, die Saison nicht hinter dem Safety-Car zu beenden.

STANDARD: Mercedes versuchte sich mit 44 Runden alten Reifen über die Ziellinie zu retten. Warum ist Lewis Hamilton nicht in die Box gefahren?

Klien: Weil er die Trackposition verloren hätte. Aus Mercedes-Sicht wusste man nicht: Fährt man bis zum Ende hinter dem Safety-Car oder nicht? Red Bull hatte nichts zu verlieren, pokerte hoch und gewann. Die Situation nach dem Unfall von Antonio Giovinazzi war die gleiche. Fährt Hamilton da in die Box, ist die Führung weg.

STANDARD: Kann man Lewis Hamilton einen Vorwurf machen?

Klien: Nein, Hamilton hat nichts falsch gemacht, Mercedes war an diesem Wochenende schneller. Red Bull hat auf den Renngott gewartet, und diese Chance hat Verstappen knallhart ausgenützt.

STANDARD: Teamchefs funken während des Rennens mit der Rennleitung. Ist das nicht so, als würden Trainer beim Fußball während des Matchs mit dem Schiedsrichter verhandeln?

Klien: Absolut. Das kann es nicht sein. Diesen Funkverkehr hat man eingeführt für die Show. Für den Regelhüter, der ruhig entscheiden muss, kann das nicht gut sein. Formel-1-Sportdirektor Ross Brown hat bereits angekündigt, dass nächste Saison damit Schluss ist. Und das ist gut so.

STANDARD: Sollte die Formel 1 ihr Regelwerk ändern?

Klien: Die abgelaufene Saison war eine besondere, weil Mercedes und Red Bull ihr hitziges Duell derart ausgereizt haben, dass Rennleitung und Stewards immer wieder gefordert waren. Dazu kommt, dass die Rennstrecken mit ihren Asphaltauslaufzonen immer wieder für kontroverse Situationen sorgen. Wären überall Kiesbett, Gras und Mauern hätte die Rennleitung viel weniger zu tun. Die Sicherheit ist in der Formel 1 enorm gestiegen, dafür gibt es öfter Diskussionen darüber, ob Piloten einander abdrängen oder gefährlich fahren. In den vergangenen Jahren wurde nicht über das Reglement diskutiert, da gab es aber auch keinen erbitterten Zweikampf bis zum Schluss.

STANDARD: Was waren die Knackpunkte über die gesamte Saison gesehen im Duell Verstappen vs. Hamilton?

Klien: Red Bull hätte früher den Sack zumachen können, war über weite Strecken das bessere und auch schnellere Team. In Silverstone, Baku und Budapest hat Verstappen viele Punkte verloren, ohne dass er Schuld hatte. Im letzten Viertel der Saison war Mercedes besser, da kam auch die Stärke und Reife von Hamilton zum Tragen.

STANDARD: Kritiker meinen, das Niveau von Verstappen und Hamilton ist Galaxien von jenem der anderen Fahrer entfernt. Gibt es auf lange Sicht einen Piloten, der an die beiden herankommt?

Klien: Verstappen und Hamilton haben dieses Jahr auf einem eigenen Level performt. Die Stallkollegen Perez und Bottas hatten still und leise gar keine Chance. Nächste Saison werden die Karten neu gemischt, es gibt ein neues Reglement, neue Autos. Es kann durchaus sein, dass ein McLaren oder Ferrari vorne mitfährt. Ein Sainz oder Leclerc, das sind Toppiloten, die in einem anderen Auto über sich hinauswachsen können. Eine Vorhersage würde ich nicht wagen. Mit der Gehaltsobergrenze werden hoffentlich in Zukunft auch kleinere Teams eine Chance haben, ein Topauto zu bauen.

STANDARD: Auch durch die Netflix-Serie "Drive to Survive" erlebt die Formel 1 einen Aufschwung. Nicht alle sind mit ihrer Machart glücklich, Tatsachen sollen verändert oder in einen anderen Kontext gestellt worden sein. Wie finden Sie die Doku?

Klien: Die erste Staffel war sehr gut, weil am nähesten an der Realität. Wenn man die Formel 1 gut kennt, dann merkt man, wie viel Hollywood da drin ist, wenn Funksprüche falschen Fahrern zugeordnet werden. Und wenn in gewisse Situationen zu viel hineininterpretiert wird. (Florian Vetter, 15.12.2021)