Die Frage nach der generellen Impfpflicht ab 1. Februar 2022 kann nicht mit einem pauschalen Ja oder Nein beantwortet werden, sagt Michael Lysander Fremuth, Wissenschaftlicher Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Grund- und Menschenrechte, im Gastkommentar.

Alles blickt sorgenvoll auf die Omikron-Variante, die sich gerade rasant ausbreitet.
Foto: Imago Images / Eibner

Unter Verfassungsjuristinnen und -juristen herrscht weitgehende Einigkeit, dass eine allgemeine Impfpflicht zulässig sein kann. Österreich ist grundrechtlich verpflichtet, Leben und Gesundheit der Bevölkerung zu schützen. Dabei genießt der Staat erhebliche Einschätzungs- und Gestaltungsspielräume, in deren Rahmen er für eine allgemeine Impfpflicht optieren kann, um der nach wissenschaftlicher Auffassung zu geringen Impfquote der Gesellschaft zu begegnen.

Freilich geht es bei einer solchen Impfung weniger um den Schutz vor womöglich unüberlegten individuellen Entscheidungen: Das Recht auf körperliche Unversehrtheit verbürgt schließlich auch die Autonomie über den eigenen Körper inklusive des Rechts, sich gegen sinnvolle, medizinisch indizierte Behandlungen zu entscheiden. Intendiert wird mit der Maßnahme vielmehr sowohl der Schutz von vulnerablen Menschen, die sich etwa aufgrund von Kontraindikationen nicht impfen lassen können oder deren Immunantwort nur schwach ausfällt, als auch der Schutz der Gesamtbevölkerung vor einer Überlastung intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten.

Aus Solidarität

Die bisher zugelassenen Impfstoffe sind geeignet, diesem Ziel zu dienen, auch wenn es vermehrt zu Impfdurchbrüchen kommt. Zunächst reduzieren sie die Übertragungswahrscheinlichkeit, da geimpfte Menschen zwar möglicherweise zu Beginn der Infektion eine ähnlich hohe Viruslast aufweisen wie Ungeimpfte, diese aber nach bisherigen Erkenntnissen schneller wieder abbauen, sodass sie auf der Zeitachse weniger infektiös sind.

Des Weiteren ist wissenschaftlich bestätigt, dass die Impfung schwere Krankheitsverläufe deutlich reduziert, sodass erkrankte Geimpfte die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems und damit Leib und Leben anderer prozentual erheblich weniger stark gefährden. Insoweit kann es der Gesetzgeber dem Individuum zumuten, den nicht unerheblichen Eingriff in seine Grundrechte aus Gründen der Solidarität mit anderen zu dulden und eine Impfpflicht als Ultima Ratio einzuführen.

Kein pauschales Ja

Allerdings kann die Frage nach der rechtlichen Zulässigkeit einer Impfpflicht mit einem pauschalen Ja oder Nein nicht seriös beantwortet werden. Es kommt stets auf den Anlassfall, die konkrete Ausgestaltung und die weitere epidemiologische Entwicklung an. Insoweit hat das Auftreten der Omikron-Variante Fragen aufgeworfen, deren Beantwortung aufgrund bislang unzureichender wissenschaftlicher Evidenz gegenwärtig nur thetisch und hypothetisch anhand von Szenarien durchdekliniert werden kann, wobei mit gewisser Wahrscheinlichkeit zu erwarten steht, dass die Virusmutation auch in Österreich dominant werden wird:

Sofern Omikron – oder eine andere Variante des Virus Sars-CoV-2 – nur mehr zu sehr milden Erkrankungen führen würde, sodass Leib und Leben der Bevölkerung und auch vulnerabler Gruppen nicht mehr gefährdet wären, erwiese sich eine allgemeine Impfpflicht im Rahmen einer Abwägung zwischen körperlicher Unversehrtheit und der Autonomie über den eigenen Körper einerseits sowie dem kollektiven Gesundheitsinteresse andererseits wohl als unverhältnismäßig. Denn der Eingriff in individuelle Grundrechte lässt sich insbesondere für den Schutz vor leicht übertragbaren und schweren Erkrankungen rechtfertigen.

Offene Fragen

Zur Gefährlichkeit der Omikron-Variante bestehen derzeit allerdings keine abschließenden Erkenntnisse. Insbesondere lassen sich Daten aus Südafrika nicht ohne weiteres auf Österreich übertragen, da dort vor allem junge Menschen erkrankt sind und die Durchseuchungsrate in der Gesamtbevölkerung recht hoch ist, das Virus also auf entsprechend vorbereitete Immunsysteme trifft.

Die Wirkung der Impfstoffe spielt in zweierlei Hinsicht eine Rolle: Diese könnten erstens verringerte Wirkungen gegenüber einer Ansteckung und Erkrankung haben, und sie könnten zweitens weniger wirksam in der Verhinderung einer Übertragung sein. Sofern die zugelassenen Impfstoffe weder die Übertragungs- und Ansteckungswahrscheinlichkeit der Omikron-Variante reduzierten noch schwere Krankheitsverläufe verhinderten, wäre eine Impfpflicht nicht geeignet, das Ziel des Schutzes der Bevölkerung, vulnerabler Gruppen und der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems zu erreichen.

Vorausschauende Legistik

Allerdings verfestigt sich der Wissensstand dahingehend, dass eine Impfung weiterhin jedenfalls schwere Krankheitsverläufe verhindert. Folglich dient eine Impfpflicht nach heutigem Wissensstand weiterhin dem Schutz von Leib und Leben sowie der Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems.

Schließlich ist zu beachten, dass eine Adaption bestehender Impfstoffe an die neue Virusvariante bereits begonnen hat. Die Stärkung der verschiedenen Aspekte des Impfschutzes trüge daher zur Rechtfertigung einer Impfpflicht bei. Die Öffnung des geplanten Gesetzes für eine Erweiterung zugelassener Impfstoffe durch Ministerialverordnung ist insoweit Ausdruck vorausschauender Legistik.

Vereinbarkeit fortwährend prüfen

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht gegenwärtig rechtlich zulässig bleibt. Eine Klärung bestehender oder sich künftig ergebender epidemiologischer und medizinischer Unwägbarkeiten überschreitet jedoch die Kompetenz von Juristinnen und Juristen. Deren Aufgabe ist es, die Maßnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie kritisch zu begleiten und sie fortwährend auf ihre Vereinbarkeit unter anderem mit Grundrechten zu überprüfen. Dafür sind sie auf die Kooperation mit anderen Wissenschaftsdisziplinen und der Politik angewiesen. Die Zumutung von Komplexität und vorläufigen Einschätzungen lässt sich dabei nicht ganz vermeiden. (Michael Lysander Fremuth, 16.12.2021)