Michael Ludwig reflektiert bereits über einen 5. Lockdown, da er versucht, ein vorausschauender Politiker zu sein, und seine Entscheidung wissensbasiert für die nächste Zeit und nicht nur fürs nächste Wochenende treffen will. Manch ein Wirt erteilt ihm da für sein Bemühen um die Gesundheit der Bevölkerung schon mal Lokalverbot. Bleibt nur zu hoffen, dass der verantwortungsvolle Fokus der Politik, der sich in der letzten Zeit zentral durch Lockdowns und Regeln manifestiert hat, nach der Pandemie ebenso auf andere Themen gerichtet bleibt. Etwa Wohnbauprojekte für leistbares Wohnen, Schaffung neuer Arbeitsplätze, Maßnahmen zur Bekämpfung der Hyperinflation, Lösung der Integrationsproblematik in Großstädten, Bekämpfung des Klimawandels und vieles mehr, um ein paar Schlagworte in den Ring zu werfen.

Auch der neue Bundeskanzler, Karl Nehammer, macht sich so seine Gedanken in der Krise. In einem bewusst bemühten Tonfall in einem Interview, das auf ORF, Puls 4 und ATV gesendet wurde, findet er lobende Worte für die Schwarmintelligenz der Wissenschaft und plädiert für ein Abrüsten der Worte. Im Kontrast zu seinen fast militärischen Auftritten als Innenminister, lässt der neue Kanzler ein gänzlich anderes Profil aufblitzen. Wären da nicht die messbaren Handlungen seiner Bewegung, die die Spaltungen und das Wettrüsten der Worte mitverursacht haben, die er nun planieren will. So einfach wird es sich bei aller “Bella Figura“ des Bundeskanzlers, die auf geringen Erwartungen fußt, nicht spielen.

Die österreichische Politik ist wie schimmernde Seepocken in der Nacht

Noch etwas fällt beim hochsensiblen Interview mit Nehammer auf. In gefühlt 50 Prozent seiner Redezeit kam in bestimmten Textpassagen der Terminus “Experten“ vor. Experten hier, Experten da - fast könnte man meinen, wir leiden unter einer Expertenkrankheit. Das spannende Beziehungsmuster und nahezu eine Liebe zwischen der Politik und deren Experten analysiert der Philosoph Norbert Bolz in einem STANDARD-Interview treffend. Vor allem seine Differenzierung zwischen einer Krise der Wissenschaft und jener der Expertenkultur bringt das aktuelle Dilemma auf den Punkt:

“Wir haben es womöglich auch mit keiner Krise der Wissenschaft zu tun, sondern bloß mit einer solchen der Expertenkultur. Experten sind Fachleute, die in sehr, sehr seltenen Fällen Medienaufmerksamkeit bekommen. Sobald ihnen diese zuteil wird, erweisen sie sich als ganz normale Menschen: verführbar durch Ruhm, durch Publizität. Sie verhalten sich dann gerade nicht wie Wissenschafter. Sie entwickeln keine Hypothesen und Modelle, die sie als Anbieter in Konkurrenz zu anderen Modellen stellen. Sondern sie tun, als besäßen sie den Durchblick. Dass sie als Mahner und Warner auftreten, darin besteht der größte Widerspruch zum Geist der Wissenschaft! Wir, als Öffentlichkeit, haben die Wissenschafter dazu verführt, sich medienwirksam als Experten aufzuspielen. Eine fatale Entwicklung."

Nehammer setzt auf einen anderen Ton.
Foto: AFP/JOHANNA GERON

Corona als Zeit des Umbruchs

ÖVP und SPÖ regieren Österreich in diversen Konstellationen seit vielen Jahrzehnten. Dadurch hat sich eine eingefahrene Form des Denkens und - was das Fatalste für die Weiterentwicklung der Republik ist - des Anspruchsdenkens in Bezug auf Posten und Einflussbereiche entwickelt. Wer sich im jeweiligen Lager brav adaptiert, steigt auf. Die Realität dieser negativen Personalauswahl spüren wir bis in die kleinsten Winkel der Nation schon lange, richtig an die Oberfläche tritt sie erst jetzt in einer schweren Krise. Die Epoche Kurz mit türkisem Anstrich hat, sowie die erste schwarz-blaue Koalition unter zentraler Federführung von Jörg Haider, gar keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. Es war - wenn überhaupt - ein Feuerwerk, das je nach Geschmacksrichtung zwar schön anzusehen ist, jedoch in Kürze verpufft ist.

Unser Land braucht ein komplett neues Setup will es zukunfts- und konkurrenzfähig bleiben. Corona und die teils undifferenzierten Maßnahmen der Bundesregierung könnten der Anfang des Endes eines ewig dominierenden Aufteilens von Posten und Macht sein, welches nicht einmal den Vertretern der beiden einstigen Volksparteien gut tut. Die für die Politik störenden Demonstrationen sind hier nur eine Ouvertüre für den kommenden Wandel. (Daniel Witzeling, 22.12.2021)