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EZB-Chefin Christine Lagarde hat zwar die Inflationsprognose für 2022 auf 3,2 Prozent fast verdoppelt, sie sieht aber die hohe Teuerung als vorübergehend an – eine Sichtweise, der nicht alle Experten folgen können.

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Die US-Notenbank Fed legte am Mittwochabend mit einer klaren Kampfansage an die hohe Inflation vor, dann tat es ihr am Donnerstag die Bank of England mit einer Zinserhöhung gleich – allein die Europäische Zentralbank (EZB) wagt sich nur sehr zögerlich aus ihrer Deckung. Der Leitzins bleibt bei null, der Einlagenzins beträgt weiterhin minus 0,5 Prozent. Zwar wird das bis März 2022 ausgelegte Corona-Notprogramm Pepp auslaufen, mit dem die Notenbank Wertpapiere im Gesamtwert von 1,85 Billionen Euro erwirbt. Im Gegenzug wird ab dann aber das normale Anleihenkaufprogramm Pepp auf das Doppelte aufgeplustert, sodass pro Monat 40 Milliarden Euro in den Finanzmarkt gepumpt werden. Eine Zinswende nach oben ist in der Eurozone auch im nächsten Jahr sehr unwahrscheinlich.

Sieht so ein entschiedenes Vorgehen gegen eine hohe Teuerung aus? Immerhin stiegen die Verbraucherpreise in der Eurozone im November auf ein Rekordniveau von 4,9 Prozent – also weit über dem Inflationsziel der Zentralbank von zwei Prozent. Im Gegensatz zur Fed, die den hohen Preisdruck nun nicht mehr als vorübergehend ansieht, bleibt EZB-Chefin Christine Lagarde bei dieser Sichtweise: "Die Inflation dürfte kurzfristig hoch bleiben, aber sich im Lauf des kommendes Jahres abschwächen."

Vergebene Chance

Für Peter Brezinschek, Chefanalyst der Raiffeisen Bank International (RBI), eine verpasste Chance. Seiner Ansicht nach hätte Lagarde die Inflation wie die Fed nicht mehr als vorübergehendes Phänomen kleinreden sollen, sondern sie ebenfalls – zumindest verbal – beherzt angehen. Zudem wäre zumindest der Ausstieg aus den Negativzinsen auf Bankeinlagen bei der Zentralbank im nächsten Jahr aus seiner Sicht überfällig. "Das würde so viele Verwerfungen wieder auflösen", sagt Brezinschek mit Blick auf die hohen Wohnkosten, die durch den durch tiefe Zinsen ausgelösten Immobilienboom angetrieben wurden. "Wer war denn hier der Brandstifter?", fragt er mit Blick auf die EZB.

Auch Wifo-Volkswirt Thomas Url meint, dass die Eurozone im nächsten Jahr eine Zinserhöhung verkraften würde – allerdings erwartet er nicht, dass die EZB diesen Schritt auch setzen wird. Zumindest für Länder wie Österreich hält er die Geldpolitik für zu expansiv. Dem Vernehmen nach sollen sich auch die Vertreter Deutschlands oder Österreichs im EZB-Rat gegen den aktuellen Beschluss der Notenbank gestellt haben. Url verweist aber auf die Möglichkeit einzelner Länder, sich in Teilbereichen von der expansiven Geldpolitik abzukoppeln – etwa indem die Finanzmarktaufsicht, wie derzeit auch vorgesehen, strengere Vorgaben für die Vergabe von Immobilienkrediten einzieht.

Druck von Erzeugerpreisen

Url glaubt nicht, dass sich in der Eurozone die Inflation bald abschwächen wird, und verweist auf einen Anstieg der Erzeugerpreise im Oktober um fast 22 Prozent. "Das ist wirklich gewaltig", sagt der Ökonom. Er geht davon aus, dass sich diese Preisanstiege in den nächsten Monaten bis zu den Verbraucherpreisen durchfressen – also weiter für Inflationsdruck sorgen werden.

Am Mittwochabend hatte Fed-Chef Jerome Powell einen klaren Ausblick auf die weitere Geldpolitik gegeben: Die Corona-Hilfen in Form von Wertpapierkäufen laufen im März aus, im weiteren Jahresverlauf sollen drei Zinserhöhungen folgen – und wahrscheinlich weitere drei im Jahr 2023. "Das zeigt eine Entschlossenheit der Fed, die Inflation ernst zu nehmen", sagt RBI-Experte Brezinschek. Er weist darauf hin, dass die US-Inflation laut den Prognosen der Notenbank trotzdem drei weitere Jahre über dem Zielwert von zwei Prozent liegen wird.

Konkurrierende Ziele

Ein Grund für das davon abweichende Vorgehen der EZB liegt darin, dass sie zwei Ziele verfolgt, die miteinander konkurrieren. Auf der einen Seite würde das Mandat der Preisstabilität für ein entschlosseneres Vorgehen gegen die Inflation durch höhere Zinsen sprechen. Dem steht eine andere Vorgabe entgegen: nämlich für günstige Finanzierungsmöglichkeiten der Euroländer mit hohen Schulden zu sorgen – also Zinsen tief zu halten. Ein Spagat, der nicht gelingen kann.

Derzeit wirkt es, als ob die EZB den Staatsfinanzen den Vorrang gibt. Für Wifo-Volkswirt Url rührt dies daher, dass sich die Zentralbank dem Erhalt der Gemeinschaftswährung, "einem Prestigeprojekt für Europa", sehr stark verbunden fühle. Zur Bekämpfung der Pandemie gaben die Staaten viel Geld aus, sodass deren Schulden auf den Stand von 2012 hochgeschnellt seien. "Das ist auch ein Grund, warum die EZB so wenig Elan zeigt", sagt Url.

Voreilige Zinsschritte

Aber er sieht auch einen weiteren Grund für das Zaudern bei der Zinspolitik: nämlich zwei Zinserhöhungen der EZB nach der Finanzkrise im Jahr 2011, die sich bald als voreilig herausgestellt hatten und umgehend rückgängig gemacht wurden – ein Fehler, den Lagarde offensichtlich nicht ebenfalls begehen will.

"Man darf aber auch nicht zu lange zuwarten, sonst entgleitet einem die Entwicklung", warnt RBI-Chefanalyst Brezinschek. Was dann passieren würde? Anhaltend hohe Inflation würde bei unteren Einkommensschichten zum sozialen Problem werden – und die EZB ihre Glaubwürdigkeit einbüßen. (Alexander Hahn, 16.12.2021)