Das offizielle Bulgarien sieht bis heute keine Hinweise darauf, dass die Tat mit der Arbeit der damals 30-Jährigen zu tun hat.

Foto: Eugenia Maximova

Sie geht an Sträuchern vorbei, an denen ihr Gewand nicht mehr hängen bleibt, die nicht mehr kratzen, nicht mehr an ihr Blut wollen, so wie sie es oft in der Kindheit getan haben, manchmal knistert, raschelt etwas unter ihren Füßen, trockene Blätter, Zweige, Reisig, sonst ist das Laub weich und feucht und riecht nach Vergehen und Werden, nach allem, was nicht mehr das ist, was es war, und noch nicht das, was es werden wird, sie könnte alles verkürzen, direkt durchs Gebüsch laufen, im Nu dort ankommen, wohin sie will, aber die alten Gewohnheiten sind noch stark, sind Teil ihrer selbst, ihrer Identität, deswegen folgt sie den alten Wegen, sie geht die Allee entlang, an dem Fluss vorbei, den sie ein Leben lang kennt, vorbei an vergessenen Booten, die am Ufer verfallen und nicht mehr wissen, wofür sie einmal erschaffen worden sind, ob als Spiel für Kinder oder um einem ewigen Strom zu trotzen, statt dass das Wasser sie trägt, wächst jetzt Gras unter ihnen, seine Farbe ist unlängst kupfern geworden wie manchmal der Fluss bei Sonnenuntergang, sie biegt Richtung Stadt ab, zieht durch die Gassen, Wäsche flattert an den Leinen auf den Plätzen zwischen den Plattenbauten, verbreitet den Duft unechten Frühlings, an rostigen Türen hängen verwitterte Plakate von Politikern und Pop-Folk-Divas, die einem alles versprechen außer Wahrhaftigkeit, streunende Hunde bellen sie an, streunende Katzen grüßen sie voller Vertrauen, sie besucht alle Menschen, die sie liebt, und alle Orte, an denen sie jemals gewesen ist, 40 Tage lang dauert es, 40 Tage bleibt die Seele der Verstorbenen auf Erden, um, wie man in Bulgarien glaubt, ihre Schritte zu sammeln, damit sie nicht mehr auf der Erde hallen und jemanden erschrecken, und dann, nachdem die Tage verstrichen sind, muss sie durch ein ödes, dunkles Feld voll Dornen, bevor sie wieder an dem Ufer jenes Flusses ankommt, dem ersten, dem letzten, dem Fluss, den sie ein Leben lang schon kennt und in den man nicht zweimal steigen kann, und dann setzt sie über und überlässt die Welt uns, unseren Augen, unseren Tränen, denn sie ist nicht mehr die ihre.

Wanderschaft der Seele

Dass die Seele eine Wanderschaft unternimmt, bevor sie ins Jenseits zieht, gehört zu den wenigen Dingen, an die die Bulgaren glauben. Deswegen ist man bereit, alles Notwendige zu unternehmen, damit die Seelen auch Ruhe finden.

Man fühlt sich den Toten mehr verpflichtet als den Lebenden, denn da herrschen seit Jahrhunderten klare Regeln und Ordnung. Ansonsten haben die Bulgaren ihren Glauben an so gut wie alles verloren, an den Staat, an die Institutionen, an die Europäische Union, daran, dass sich die Lage jemals bessert, vor allem aber an die Gerechtigkeit. Verschwindet jedoch der Glaube an die Gerechtigkeit, zerbricht auch die Gesellschaft.

Ansonsten haben die Bulgaren ihren Glauben an so gut wie alles verloren, an Institutionen, den Staat, an die EU.
Foto: Eugenia Maximova

Aber zurück zum Ufer, zum Fluss, der uns alle erwartet, zu jener Zeit, die nicht fließt, weil sie kein Ding ist, sondern Dauer, eine Dauer, in der jeder Augenblick von Vergangenheit trieft.

Der 6. 10. 2018 ist ein warmer Tag, über 20 Grad zeigen die Thermometer in Russe. Zigeunersommer nennen die Bulgaren diese Tage im Herbst, die der Sommer noch für sich beansprucht, genannt nach jenen, deren Existenz und Schicksal unmittelbar von den Launen der Natur abhängig sind.

Es ist Samstag, und die Bürger von Russe nutzen das schöne Wetter und strömen ins Freie. Viktoria Marinova hat an diesem Tag auch etwas vor. Sie will sich für einen Marathonlauf vorbereiten. Gegen 10 Uhr morgens trinkt sie einen Kaffee im Park, danach geht sie in die Allee joggen. Sie kehrt nicht mehr zurück. Am Nachmittag wird ihre brutal misshandelte Leiche entdeckt.

Bulgarien als Schlusslicht

Erst wenige Tage zuvor hat sie in der von ihr ins Leben gerufenen Sendung Detektor ein Interview mit zwei investigativen Journalisten ausgestrahlt, die über Korruption und Veruntreuung von EU-Geldern in Bulgarien recherchiert und ihre schockierenden Ergebnisse präsentiert haben.

Die Annahme, dass Viktorias Mord mit diesen Enthüllungen zu tun haben soll, begann durch alle Medien zu zirkulieren. Kein Wunder, denn in Sachen Medienfreiheit ist Bulgarien das Schlusslicht nicht nur in der Europäischen Union, sondern auch auf dem Balkan. Von 180 Ländern weltweit belegt das Land den 118. Platz. Das Echo im Ausland ist auch enorm.

Es ist das Jahr, in dem ein Journalist in der Slowakei ermordet worden ist, und ein Jahr, nachdem eine Journalistin in Malta ihr Leben verloren hat. Die Regierung bekommt unerwarteten Druck sowohl von innen als auch von außen.

Metaphysischer Charakter der Schuld

Das Thema soll so schnell wie möglich von den Titelseiten. Man braucht dringend einen Schuldigen, einen, der den Fragen und Theorien ein Ende setzt. Drei Tage später hat man ihn. Zufällig erweist er sich als der perfekte Täter.

Er heißt Severin, ist Rom und hat die Tat gestanden. Er hat gestanden, in der Nacht auf den 6. Oktober Alkohol und Aufputschmittel konsumiert, am folgenden Morgen einen Kindergeburtstag besucht und dann, unterwegs nach Hause, Viktoria getroffen und umgebracht zu haben. Alle, die von einem politischen Mord geredet haben, verstummen, denn ein 20-jähriger Junge kann sehr wohl so eine unmenschliche Tat vollbringen, denn er ist ein Rom, und ein Rom ist eben kein Mensch.

Über nichts in der bulgarischen Gesellschaft gibt es so einen Konsens, einen Konsens, der alle sozialen Schichten, inklusive der Intellektuellen, einigt, wie den über die Minderwertigkeit, Nutzlosigkeit und Niedertracht der Roma.

Die einzige ethnische Gruppe in Bulgarien, die ohne Zweifel immer schuld ist, sind die Roma. Ihre Schuld hat metaphysischen Charakter, denn sie sind nicht allein schuld daran, was sie getan haben, sondern auch daran, was sie hätten tun können, oder daran, was sie tun werden.

Einsatz für die Wahrheit

Alle Vorurteile der Bulgaren in sich vereinend, gehören die Roma seit Jahrzehnten zu den idealen Tätern. Nun hat ein Rom den Mord an der Journalistin Viktoria Marinova gestanden. Das Besondere an diesem Geständnis ist, dass er ihren Mord von der Höhe des Märtyrertodes einer Kämpferin für die Wahrheit in die Niederungen der Triebhaftigkeit holt, in der die Sexualverbrechen geschehen.

Verschwindet der Glaube an die Gerechtigkeit, zerbricht auch die Gesellschaft.
Foto: Eugenia Maximova

In den Augen der bulgarischen Öffentlichkeit degradiert dieses Geständnis Viktorias Tod doppelt, zum einen, weil er aus Lust geschehen ist, und zum anderen, weil ihn ein Rom begangen hat. Das reicht aber den regierenden Politikern nicht. Ihre Dreistigkeit und Grässlichkeit geht weiter, denn sie fühlen sich als die wahren Opfer. Ihr Ruf in Europa ist geschädigt, natürlich zu Recht, aber in Bulgarien gibt es eine lange Tradition, die Opfer als Täter zu denunzieren und die Täter als Opfer darzustellen.

Also wird richtig an Viktorias Denunziation gearbeitet. Sie sei ja gar keine Journalistin gewesen, sie habe die Sendung nur moderiert. Sie sei eine schöne Frau gewesen, habe sogar gemodelt. Klar, dass ihr Mord eher mit ihrem Aussehen und den Begierden, die das weckt, als mit ihrem Einsatz für die Wahrheit zu tun habe. Ein Model kann nur als Lustobjekt enden und nicht als Kämpferin gegen die Korruption. So geht das Morden an Viktoria Marinova auch nach ihrem Tod ungestraft weiter.

Kein Schuldbewusstsein in der Politik

Die politische Elite Bulgariens hat seit eh und je kein Schuldbewusstsein. Es verhält sich sogar so, dass man hauptsächlich deswegen in die Politik strebt, weil man dann kein Schuldbewusstsein zu haben braucht. Das hat schon im sogenannten Kommunismus begonnen, als die Parteibonzen, egal, welche Gemeinheit sie auch begingen, unantastbar blieben.

Bei der Wende fühlte sich kein einziger Politiker von allen, die das Land gelenkt hatten, für die wirtschaftliche Misere verantwortlich. Dafür, dass das Land während der Amtszeit des Diktators Shivkov dreimal in den finanziellen Ruin gefahren worden war, wurde kein einziger verurteilt.

Doch noch unverzeihlicher ist die Tatsache, dass für alle Verbrechen, die dieses totalitären System an unschuldigen Menschen begangen hat, indem sie sie gefoltert, in Konzentrationslager und Gefängnisse gesteckt, umgebracht und die Zukunft all ihrer Angehörigen und Verwandten zerstört hat, kein Einziger, nicht einmal der Diktator, schuldig gesprochen wurde. Keiner der Henker wurde verurteilt, ganz im Gegenteil.

Bis zu ihrem Tod haben sie die höchstmöglichen Pensionen genossen, die es in Bulgarien gibt, während die Opfer damals kein Recht auf Pension hatten und danach, weil sie im Kommunismus mit Arbeitsverbot belegt waren, so wenig Arbeitszeit vorweisen konnten, dass sie wiederum keine Pension bekamen.

Schlüsselmoment

Kein einziger Kommunist hat sich für die Taten und Fehler seiner Partei entschuldigt, kein einziger bei den Angehörigen der Opfer um Vergebung gebeten, kein einziger wurde verurteilt. Und das ist ein Schlüsselmoment. Denn wenn für solche Grausamkeit niemand bestraft wird, dann ist alles erlaubt, alles möglich. Hiermit nimmt der Verlust des Glaubens an die Gerechtigkeit seinen Lauf.

Mit diesem unverzeihlichen Fehler, für die endlose Liste von Verbrechen keinen Einzigen zur Rechenschaft zu ziehen, wurde die Zeit der Demokratie in Bulgarien eingeleitet. Alles, was danach kommt, entspringt derselben Quelle des Unmoralischen. Da es keine Instanz gibt, die sie zur Rechenschaft zieht, nicht einmal eine metaphysische, ist die politische Elite Bulgariens, egal welcher Farbe auch immer sie angehört, denn die Farben sagen da gar nichts über politische Gesinnung, an Schamlosigkeit und Dreistigkeit kaum zu überbieten.

Genauso dreist und schamlos sind ihre Kommentare zu dem Mord an Viktoria, und sie bleiben so, egal, wer auch immer der wahre Täter ist. Und sie bleiben, so wie immer, auch ungestraft, obwohl sie beleidigend, rufschädigend, diskriminierend und vor allem unwahr sind. Nun zu den Dingen, die unbestritten wahr sind.

Was unbestritten ist

Wahr ist auch, dass in Bulgarien die Wahrheit die Gewohnheit pflegt, als Erste zu sterben.
Foto: Eugenia Maximova

Viktoria Marinova ist Journalistin, das ist wahr. Wahr ist, dass sie verantwortlich für das Programm des Senders ist und dass sie die Sendung Detektor konzipiert und ins Leben gerufen hat, jene Sendung, die den Journalisten des investigativen Onlineportals Bivol die Möglichkeit bietet, mehr Menschen zu erreichen, wenn sie über aufgedeckte Verbrechen berichten.

Wahr ist, dass der Fernsehsender Viktorias Ehemann gehört, der sie in ihrer Arbeit unterstützte. Wahr ist, dass er seit längerem immer wieder bedroht worden ist, um gezwungen zu werden, sein Geschäft aufzugeben. Wahr ist, dass auch die Journalisten von Bivol, die in der Sendung von der Art und Weise, wie EU-Gelder veruntreut und wie die Polizei sich kaum darum kümmert, berichten, genauso bedroht worden sind und dass sie Viktoria vor der Ausstrahlung davon in Kenntnis gesetzt haben.

Wahr ist, dass ein paar Tage nach der Ausstrahlung Viktoria umgebracht worden ist. Wahr ist, dass der für die Autopsie zuständige Arzt gesagt hat, er habe noch nie eine so verunstaltete Leiche gesehen, obwohl er schon lange im Dienst ist.

Wahr ist auch die Auskunft, die wir unlängst von der Polizeidirektion Russe auf unsere Anfrage bekommen haben, und sie lautet: Im Zeitraum von 1. 1. 2015 bis 19. 10. 2020 sind zwanzig vorsätzliche Morde und fünf Mordversuche geschehen. Nur eines dieser Opfer ist weiblich. Bei den Mordversuchen ist keines der Opfer weiblich. Von den Tätern sind vier ethnische Roma. Wahr ist auch, dass in Bulgarien die Wahrheit die Gewohnheit pflegt, als Erste zu sterben.

Anhäufung von Zufällen

Den Tod begreifen wir nicht, einen derart grausamen noch weniger. Aber weil wir vernunftbegabte Menschen sind, gehen wir alles nochmals und nochmals durch und stoßen auf eine Häufung von Zufällen, die außergewöhnlich ist. Nehmen wir an, es ist nur Zufall, dass die ermordete Viktoria die Frau dieses Mannes ist, der mehrmals bedroht wurde, um ihn dazu zu veranlassen, sein Geschäft und seinen Fernsehkanal aufzugeben.

Nehmen wir an, es ist nur Zufall, dass sie ermordet worden ist, einige Tage nachdem sie in ihrer Sendung das Wort an Journalisten gegeben hat, die selbst gewarnt und bedroht worden sind. Nehmen wir an, dass Viktoria, die eine großgewachsene und gut trainierte Frau ist, am helllichten Tag, während sie läuft, um sich auf einen Marathon vorzubereiten, von einer Allee, die auch an ganz kalten Tagen nie menschenleer ist, ins Gebüsch weggezerrt wurde, ohne dass jemand etwas gehört oder gesehen hat. Nehmen wir an, es ist wieder nur Zufall, dass zu dieser Tageszeit und an dieser Stelle keiner ihre Hilfeschreie oder ihren Todeskampf hören kann.

Nehmen wir an, es ist nur Zufall, dass bei all den zwanzig Morden und fünf Mordversuchen, die drei Jahre davor stattgefunden haben und zwei Jahre danach passieren werden, Viktoria die einzige Frau bleibt. Ist es nur Zufall, dass bei dieser Anzahl von Tätern ihr Mörder zu den drei anderen gehört, die zu der Gruppe der Roma zählen.

Ist es nur Zufall, dass ein junger Mensch, dessen einziger Vermerk bei der Polizei von einem Metalldiebstahl stammt, ein junger Mensch ohne kriminelle Vergangenheit, ohne dass er jemals sexuelle Vergehen oder Gewaltdelikte begangen hätte, ohne dass er jemals durch Aggressionsausbrüche aufgefallen wäre, ein junger Mensch, der in einer festen Beziehung lebt, am Samstag, dem 6. 10. 2018, nachdem er zuvor bei einem Kindergeburtstag gewesen ist, so außer sich geraten, so zur Bestie werden kann, dass er einen der grausamsten Morde begeht, die jemals in dieser Gegend geschehen sind.

Beweismittel

Eine Anhäufung so vieler Zufälle ist eine Beleidigung für jeden Intellekt. Ich wäre aber bereit, diese Beleidigung hinzunehmen, wenn nicht bei all diesen Ereignissen das Wirken eines Systems sichtbar würde, das seit Jahrzehnten seine Bürger beleidigt, wenn da nicht eine politische Elite am Werk wäre, die vor den Augen aller stiehlt und raubt, droht und lügt, die erst die Bedingungen für Korruption, Betrug, Vetternwirtschaft, Geldveruntreuung, für alle jene Verbrechen schafft, vor denen ehrliche Menschen wie Viktoria die Augen nicht verschließen wollen. Ich wäre bereit, das zu tun, wenn da nicht eine regierende Macht wäre, die in ihrer uferlosen Schamlosigkeit eine mutige Frau auf ihren Körper reduziert hat.

Aber auch so spricht ihr Körper weiter. Er spricht von einer unglaublichen Wut und Gewalttätigkeit, die er erleiden musste und die in der bulgarischen Gesellschaft stets präsent ist. Er spricht von unzähligen Schlägen und Wunden, davon, dass er am eigenen Blut erstickt ist und erst nach dem Todeseintritt, nachdem er zu dem Gegenstand geworden ist, zu dem die Politik ihn gerne degradieren möchte, vergewaltigt worden ist. Der tote Körper von Viktoria Marinova klagt ihren Mörder an, aber zugleich ein System, dasselbe System, das Viktoria zu Lebzeiten angeklagt hat.

Sogar wenn alle Zufälle zutreffen sollten und Severin tatsächlich ihr Mörder wäre, ändert das nichts an der Tatsache, dass hier weitere Verbrechen liegen, die nicht untersucht worden sind. Denn es ist ein Verbrechen, zu versuchen, Beweismaterial zu vernichten, jenes Material, das die Veruntreuung von EU-Geldern bezeugt.

Es ist ein Verbrechen, dass die zuständige Behörde auf ein Signal der Journalisten, dass dies gerade versucht wird, nicht adäquat reagiert, also niemanden schickt, um das zu unterbinden, sodass die Journalisten sich selbst gezwungen sehen, die Lastwagen mit dem Dokumentationsmaterial zu verfolgen, damit die Beweise nicht auf ewig verschwinden.

Verbrecherisches System

Es ist ein Verbrechen, die Journalisten an dem Ort zu verhaften, wo gerade die Verbrennung der Beweise passiert, und diese wie Verbrecher zu behandeln. Gut, dass sie zuvor nochmals die zuständige Behörde informiert haben, die dann irgendwann ohne besondere Eile eintrifft.

Es ist ein Verbrechen, mit welcher Schlampigkeit, die einem Vertuschungsversuch gleicht, diese Behörde sich um die Beweismittel kümmert. Gut, dass die Journalisten der Behörde nicht ganz trauen und nach ihrer Entlassung nochmals zu dem menschenleeren Tatort gehen, wo sie immer noch Säcke mit Dokumentationsmaterial finden und retten.

Es ist ein Verbrechen, dass es keine Urteile gibt, dass im Zuge all dieser Ermittlungen der Öffentlichkeit nur ein einziger Verbrecher präsentiert wird, der Rom Severin. Und sogar wenn es sich tatsächlich um eine Triebtat handelt und er mit absoluter Sicherheit der Mörder ist, entlastet das auf keinen Fall den Staat. Sogar der eindeutigste Beweis für Severins Schuld kann dieses politische System nicht mehr unschuldig machen.

Ursache des Leids

Mehr als zwei Jahre schon liegt Viktoria begraben und wird zu dem Boden unter unseren Füßen, zu der Erde, die uns trägt. Ihre Sendung existiert nicht mehr, und in dem Sender ihres Mannes treten keine investigativen Journalisten mehr auf. Viktorias nahen Angehörigen wurde zu keinem Zeitpunkt dieser Tragödie psychologische Hilfe angeboten, weder ihrem Kind noch ihren Eltern, geschweige denn ihrem Mann.

So ein Angebot hätte vielleicht eine weitere Tragödie verhindern können, denn im Sommer des Jahres 2020 hat Viktorias Vater sich das Leben genommen. Mit jedem weiteren Gedanken, mit jedem Versuch, die Geschehnisse zu analysieren, verfestigt sich nur der Eindruck, dass wir es mit einem System zu tun haben, das statt Leid zu verhindern es verursacht.

Dieses System ist das einzige, das sich in dieser Zeit nicht verändert hat. Obwohl die Menschen seit mehr als 150 Tagen auf die Straße gehen, um zu protestieren, und ihren Unmut, ihren Groll, ihre Wut zeigen, wird es auch diese Proteste aussitzen, so wie die vielen früheren, so wie es seine Art ist, und die Menschen, die man so sehr in dieser Gesellschaft braucht, werden enttäuscht das Land verlassen, um die Gerechtigkeit an einem anderen Ort zu suchen.

Abwesenheit einer Antwort

Der Tod ist die absolute Abwesenheit einer Antwort. Wenn wir vom Tod reden, meinen wir immer den Tod des anderen, weil der Bezug zu unserem eigenen Tod weder Erfahrung noch Wissen ist. Der andere aber individualisiert mich durch die Verantwortung, die ich für ihn trage.

Deswegen betrifft mich sein Tod in meiner Identität. Ich trage die Schuld der Überlebenden, der am Leben Gebliebenen. Der Tod betrifft mich, berührt mich. Diese Betroffenheit durch den Tod ist eine Betroffenheit durch das Unermessliche, das Unendliche. Die Unendlichkeit, die Ewigkeit, ist keine Zeit, sondern eine Beziehung, unsere Beziehung zum anderen, denn wir sind auf ewig für ihn verantwortlich. Die Ewigkeit ist also nichts anderes als eine moralische Beziehung.

Wenn Schnee fällt, der Fluss zufriert, das Eis die beiden Ufer verbindet, dann können auch jene Seelen den Weg ins Jenseits finden, die kein Geld für die Überfahrt haben, so hofft man. Man ist geneigt, der Natur etwas zuzuschreiben, das sie niemals haben wird, Barmherzigkeit. Viktoria wird weder Erde unter den Füßen noch Staub in den Augen werden, denn das sind Dinge, und Dinge haben keine Identität. Viktoria ist Anstand und Mut, sie ist unsere menschliche Größe und unsere Schuld, sie ist unsere Bindung zum Ewigen. (Dimitré Dinev, ALBUM, 18.12.2021)