Boris Johnson hat schon bessere Zeiten gesehen.

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"Boris Johnson, die Party ist vorbei": Die Liberaldemokratin Helen Morgan hat den schönen Satz gesagt an diesem Freitagmorgen, als ihr sensationeller Sieg bei der Nachwahl in Shropshire feststand. Erstmals seit 1830 wird der ländliche, tiefkonservative Bezirk Mittelenglands nicht von einem Abgeordneten der konservativen Partei im britischen Unterhaus vertreten.

Zwei Jahre nach seinem überzeugenden Wahlsieg hat der Premierminister eine verheerende Niederlage einstecken müssen. Gewiss haben Nachwahlen zum Unterhaus ihre ganz eigenen Regeln. Immer wieder haben die Briten den Regierenden auf diese Weise verdeutlicht, wer in der Demokratie das Sagen hat. Häufig konnten schwer angeschlagene Regierungschefs später bei den allgemeinen Wahlen wieder triumphal in die Downing Street einziehen. Gelegentlich aber kündigten Mandatsverluste wie der vom Donnerstag einen Machtwechsel an.

Verstoß gegen Lobbyingregeln

In der Politik gibt es selten Gewissheiten. Doch spricht vieles dafür, dass der brutale Nasenstüber im Advent den Anfang vom Ende der Ära Johnson markiert. Die Nachwahl von Shropshire war nötig geworden, nachdem der von dort entsandte langjährige konservative Abgeordnete seinen Hut nehmen musste. Owen Paterson hatte gegen klare Lobbyingregeln verstoßen, das Parlament hatte ermittelt und wollte den Tory-Veteranen bestrafen – da setzte der Premierminister seine Truppen in Marsch und ließ zugunsten des Brexit-Gesinnungsfreunds die geltenden Regeln aushebeln.

Zwar scheiterte das Vorhaben am Widerstand der Opposition, ohne deren Unterstützung kein neues System denkbar wäre. Doch hatte Johnson einen Eindruck bestätigt, der sich bei vielen Wählern seit Monaten festsetzt: Für den Bewohner der Downing Street und sein Team gelten andere Regeln als für die Allgemeinheit. Im ersten Corona-Lockdown verstießen Johnsons engster Berater sowie ein Kabinettsmitglied eindeutig gegen geltende Regeln, durften aber im Amt bleiben. Millionenaufträge für Schutzkleidung und Masken wurden ohne Ausschreibung an Tory-Freunde vergeben. Fehlverhalten von Ministern blieb ungeahndet.

Verbotene Partys

In diesen Adventwochen, in denen sich das Corona-erschöpfte Land einer riesigen "Omikron-Flutwelle" (Boris Johnson) gegenübersieht, bestätigten Fotos aus dem zweiten Lockdown vor Jahresfrist: Während viele Briten ihren verwirrten, isolierten Verwandten nur durch die Fenster von Alten- und Pflegeheimen zuwinken konnten, alle Weihnachtsfeiern und Familienfeste absagen mussten, steppte in der Downing Street der Bär. Ungeniert setzten sich Beamte und Minister in Whitehall über alle Vorschriften hinweg, um Partys zu feiern – jene Partys, an die in der Nacht auf Freitag die Wahlsiegerin Morgan erinnerte.

Dem fröhlichen Brexit-Propagandisten Johnson haben die Wähler immer wieder vieles verziehen. "Boris ist eben Boris", pflegten sie zu sagen – ein Schlawiner, ein Witzbold, der mit seiner eigenen Fehlbarkeit die Schwächen und Verfehlungen der Menschen widerspiegelt. In der Pandemie aber erweist sich diese Regierungsweise in der Tradition des merry old England zunehmend als schal.

Der dauernde wohldokumentierte Verstoß gegen alles Fairplay hat selbst im tiefkonservativen Shropshire Spuren hinterlassen. Unmissverständlich haben die Wähler des Bezirks, stellvertretend für alle Briten, dem lümmel- und lügenhaften Premierminister verdeutlicht: bis hierher und nicht weiter. Entweder erfindet sich der 57-Jährige neu als Chef einer kompetenten, populistisches Gequatsche beiseitelassenden Regierung – oder seine längst von Panik ergriffene Partei weist ihrem einst gefeierten Chef die Tür. (Sebastian Borger, 17.12.2021)