Es ist jetzt 16.01 Uhr, ich sitze mit dem Rücken zur Wand vor dem Café Brinkmann und trinke ein Hertog-Jan-Bier, das sehr gut schmeckt. Für Ende November ist es noch angenehm lau, was nicht nur an dem über mir arbeitenden Heizstrahler liegt. Die Luft ist klar, die Nordsee nicht weit. Der Himmel ist taubenblau und nur vereinzelt von lichtgrauen Wolkenschleiern durchwebt. Man hat von den Caféterrassen einen guten Blick auf den Grote Markt mit seinen vielen moderat-prächtigen Bürgerhäusern, in dessen Zentrum eine elegante, gotische Kathedrale – die Grote Kerk von Haarlem – steht.

Ikea-Kataloge nehmen sich dagegen aus wie ein Sozialporno

Die Menschen, denen ich begegne, sind allesamt sehr freundlich. Sie haben offene, meist längliche und klar gezeichnete Gesichter. Die allermeisten wirken entspannt und im Reinen mit sich und ihrer Umgebung. So auch unsere Gastgeber Millie und André – ein sympathisches Paar, wohl Ende sechzig, deren Ferienwohnung wir bezogen haben. Sie wirken elegant und aktiv – der Marketing-Begriff Silverager schien mir für sie erfunden. "Guuute Tag!", riefen sie wie aus einer Kehle, als sie uns die Haustür öffneten. Für einen Moment fühlte es sich an, als hätten wir einen Satz neue Großeltern gewonnen. Wie fast alle Häuser in Haarlem ist auch ihres aus Backstein gemacht; wie alle Häuser in Haarlem ist es älter, wirkt aber sehr jung, oder besser alterslos. Denn wie alle Häuser hier verfügt es über sehr große, unverhüllte Fenster, die den Blick in ihr klug ausgeleuchtetes Inneres, hinweg über geschmackvoll arrangierte Wohnlandschaften mit bequemen Sofas, großzügigen Esstischen, Bogenlampen und frischen Blumenbouquets, oft bis zum gegenüberliegenden Fenster hinaus in einen kleinen, gepflegten Garten, führen.

Der gute Stil wirkt hier ganz natürlich gewachsen und nicht wie durch Schöner-Wohnen-Magazine oder -Blogs mühsam angelesen und neureich-protzend oder pseudo-locker ausgestellt. Nein. Haus für Haus sah ich Fenster für Fenster angenehme Familien, oft in drei Generationen, beim Abendessen sitzen. Gut erzogene Kinder trugen gut angezogenen Senioren, wie Millie und André, artig Erdäpfelsalat auf. Wenn Wohnungen die Spiegel der Seelen sein sollen, so haben wir es hier mit einer Kolonie ganz hervorragender Seelen zu tun. Die bemühten, pedantisch arrangierten Shootings der Ikea-Kataloge nehmen sich dagegen aus wie ein Sozialporno.

Es scheint hier keine Probleme zu geben.
Foto: Alexander Keppel

Im Café Brinkmann werden über mir nun, so gut wie geräuschlos, die schweren, schwarzen Markisen ausgefahren. Schade eigentlich, denke ich kurz, denn sie nehmen mir den Blick in den luftigen Nachmittagshimmel, doch andererseits kann man die Dämmerung inzwischen auch nicht mehr verleugnen, und so leicht überdacht und doch in frischer Luft sitzend, fühlt es sich ja noch behaglicher an, eine Zigarette zu rauchen. Eine blonde Kellnerin, Anfang zwanzig, schlendert, sich den Rucksack leger über die Schulter werfend, auf den weiten, bereits in Abendlicht getauchten Marktplatz hinaus in ihren Feierabend. Ihr junger Kollege, dessen karamellfarbenes Haar ihm locker, wie frisch gewaschen, in die Stirn fällt, ruft ihr nach: "Annabell!", um sich mit ein paar netten Worten von dem Mädchen zu verabschieden. Ihr Lächeln – bezaubernd. Eine andere hübsche Kellnerin, mit noch etwas blonderem Haar als Annabell, serviert zwei Tische weiter dampfenden Kaffee samt Apfelkuchen mit Schlag und scherzt mit den Gästen. Diese sind wiederum, wie sich herausstellt, als sie dann Feierabend macht und sich für ein Glas Weißwein mit an diesen Tisch setzt, ihre Freundinnen.

Es scheint hier keine Probleme zu geben

Die allermeisten Frauen, die ich hier sehe, haben offene, ebenmäßige, bisweilen etwas puppenhafte Gesichter, in denen sich – im Gegensatz zu jenen vieler zum Beispiel osteuropäischer oder levantinischer Frauen – aber kaum Drama oder vorauseilendes Beleidigtsein eingeschleust hat. Genauso wenig sieht man hier einen bestimmten Ausdruck, den man heute gerne schmeichelhaft-vulgär resting bitch face nennt. Kein Wunder – die niederländische Gesellschaft scheint die Ursachen für solche bedauerlichen Gesichtsgerinnungen auch kaum zu produzieren. Und wenn doch mal, dann werden sie von den vielen positiven Aspekten, hier zu leben, schnell wieder geglättet. Es tut gut, in Nordwesteuropa zu sein.

Hinter jedem Haus das Meer.
Foto: Alexander Keppel

Schlag 17 Uhr setzt wieder das Glockenspiel der monumentalen, aber keinesfalls brutalen Grote Kerk hier am Grote Markt ein. Es ist kein monotones, dröhnendes Geklöppel, sondern eine feine Melodie, die sich ins wohltemperierte Gesamtgefüge des Ortes bestens einfügt. Nach kurzer Zeit komme ich mir in meiner schwarzen Alpha-MA1-Bomberjacke zu schwarzen Solovairs, zumindest modisch, deplatziert vor. Dieser ironisch-aggressive Bunker-Look, der in Berlin noch gut funktionierte, fühlt sich in den malerischen Gassen Haarlems zu edgy an, ja wirkt hier beinahe ein bisschen verrückt. Das Leben klingt hier nicht nach Ben Klock, sondern eher nach Bill Evans. Es gibt hier auf Anhieb nichts, gegen das ich rebellieren möchte.

Am nächsten Tag treffe ich unseren Gastgeber André zufällig auf der gegenüberliegenden Seite der Kathedrale gemütlich vor einem Frittenstand sitzend. Ich spreche ihn an. "Halllooouw Alex!", ruft er aus seinem Tagtraum erwachend – die Arme samt Frittentüte von sich streckend – freudig aus. Seine Überraschung über mein unvermitteltes Auftauchen verwandelt er volley in sprühende Freundlichkeit, ohne sich merklich verstellen zu müssen, wie man es als fröhlicher Deutscher, wie ich, bei Österreichern bisweilen erlebt. Inspiriert von André bestelle ich mir auch eine Portion der köstlichen, doppelt frittierten Kartoffelstreifen mit Mayonnaise beim De Haerlemsche Vlaamse und setzt mich für ein paar Minuten zu ihm. Nach dem Essen weist er mir noch gestenreich den Weg zu einem der hier rar gesäten Geldmaaten und fährt dann winkend mit seinem Fahrrad quer über den Marktplatz von dannen. Im Alter möchte ich ein André sein.

Halllooouw Alex!
Foto: Alexander Keppel

Nirgendwo hat man das Gefühl, falsch abgebogen zu sein

Der nächste Bankomat findet sich, wie von André beschrieben, in der nächsten Filiale der örtlichen Supermarktkette Albert Heijn. Obwohl man hier natürlich überall alles mit Karte zahlen kann, fühlt es sich besser an, ein paar Euro im Portemonnaie zu haben. So setze ich meinen Weg mit frischem Taschengeld zwischen den freundlichen Backsteinhäusern mit all den Geschäften, Cafés und Restaurants fort. Nirgendwo hat man das Gefühl, falsch abgebogen zu sein. Es gibt kein schlechtes Viertel, keine merklichen Arm/Reich-Kontraste, die die bisherigen Eindrücke als touristisch, oder besser noch: privilegiert, demaskieren sollen. Ungute Gegenden, Ghettos gar? Fehlanzeige. Alles wird immer nur noch ein bisschen schöner und im schlimmsten Fall eben ein bisschen langweiliger. Wenn dem so ist, nimmt man eben einfach eine andere der vielen, wie mit backsteinernem Fischgrätenparkett gepflasterten Gassen, im Winkelgebied der endlosen Altstadt Haarlems.

Rebellion, hier? Nein, danke.
Foto: Alexander Keppel

Perfekt normal

Fast schade, dass ich das kleine Land und vor allem dessen Stadt im äußersten Nordwesten Kontinentaleuropas nicht schon früher entdeckt habe. Doch die Klischees von Kiffertouristen, die sich in stumpfe Rauchwolken gehüllt, dümmlich grinsend vor Coffeeshops tummeln, oder die sich müde und marionettenhaft räkelnden Sexarbeiterinnen in ihren zwielichtigen Schaufensterkabinen hatten mein Hollandbild nachhaltig vernebelt. Auf all das hatte ich überhaupt keine Lust, doch all das waren ja Amsterdam-Klischees! Wir aber sind hier in Haarlem! Haarlem – eine Kleinstadt, die mit sich im Reinen scheint und es allem Anschein nach auch ist. Alles ist hier perfekt normal, wie mein schwedischer Freund Tim aus Uppsala es ausdrücken würde. Die nicht enden wollende Altstadt ist durchzogen von kleinen Grachten, und die Sonne scheint hier Ende November, als wäre sie eben erst in einem frühen Oktober aufgewacht. Die großen, offenen, länglichen und freundlichen Gesichter der Niederländer, die fast alle aussehen wie physiognomische Variationen jener von Rudi Karell, André Rieu oder DJ Marcelle, sind wie geschaffen, diese Sonne in sich aufzunehmen. Nichts Missgünstiges oder Verkniffenes liegt in den Blicken dieser erfreulichen Menschen vor oder hinter ihren unverhangenen Fenstern.

Backsteinparkett auf den Gassen Haarlems.
Foto: Alexander Keppel

Schade, dass die Welt nicht ein bisschen Haarlem’scher ist

Natürlich ist mir nicht entgangen, dass Holland sich ob seiner liberalen bis laxen Gesetze für Betäubungsmittel massive Probleme mit deren werter Händlerschaft eingebrockt hat. Dies war vergangenen Herbst sogar eine Titelstory des "Spiegel", dessen Cover eine kiffende Frau Antje mit Kalaschnikow in der einen und einem durchschossenen Gouda, aus dem weißes Pulver rieselt, in der anderen Hand zeigte. Doch derlei Unbilden scheinen hier sehr weit weg. Selbst die ältere, asiatische Prostituierte – wahrscheinlich die einzige ihrer Zunft in Haarlem –, die mir aus ihrer kleinen Rotlichtkabine in einer guten Wohngegend zuwinkt, wirkt so harmlos und freundlich wie jener Käsehändler, der mir zwei Gassen weiter ein Stück reifen Beemster zum Kosten herunterhobelt. Es ist schade, dass die Welt nicht ein bisschen Haarlem’scher ist, denke ich mir spätestens, als zwei Bauarbeiter in ihrer Arbeitskluft schwatzend und rauchend an mir vorbei in ihren Feierabend radeln.

"Don’t worry – it’s for free"

Bahnhofsvorplätze sind für gewöhnlich die Toiletten einer Stadt. Hier sieht man – besonders abends –, wen sie verdaut und ausgeschieden hat. In Haarlems gut geputztem Abort hängen heute nur ein paar gymnasiastenhafte Jugendliche herum, die sich nichtrauchend, mit ihren Smartphones oder Freunden quatschend, die Scheitel aus der Stirn blasen. Ein paar Pendler besteigen und verlassen mit neutraler Laune ihre pünktlich abfahrenden Busse.
Das war's.

Wir betreten aufs Geratewohl eine Bahnhofskneipe, und ich muss gleich feststellen, wie unpassend sich dieses Wort für jenes Lokal ausnimmt. Dies hier ist keine versiffte Kaschemme, wo die Gestrandeten über müden Bieren versumpfen, sondern eine gemütliche, kleine, aufgeräumte Gaststätte, in der es nach Kroketten duftet. "Excuse us, may we use your restrooms please? We’d like to pay for that, of course."

Der freundliche, mittelalte Wirt mit Schiebermütze und Brauerei-Shirt winkt freundlich ab und ruft: "Don’t worry – it’s for free", als er uns den Weg zu den Toiletten weist. Eine mitteljunge Mutter sitzt mit ihrem vielleicht achtjährigen Sohn am Tresen und trinkt Limonade. Sie lächelt uns beim Verlassen des Lokals freundlich zu. Schade, dass unser Flughafenbus schon kommt. Europa, es geht doch. (Alexander Keppel, 11.1.2022)