Sechs Segmente des insgesamt 18-teiligen Webb-Hauptspiegels werden im Labor getestet. Sie müssen sich im All selbstständig entfalten.

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"Fehler können wir uns nicht erlauben", sagt Hasinger. Einmal im All, ist das Weltraumteleskop auf sich allein gestellt.

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Fragt man Günther Hasinger, wie er das Jahr 2021 ausklingen lassen wird, kommt die Antwort im Raketentempo: "Daumen halten und mitfiebern!" Als wissenschaftlicher Direktor der Europäischen Weltraumorganisation (Esa) wird der deutsche Astrophysiker den Start des James-Webb-Weltraumteleskops vom Weltraumbahnhof Kourou in Französisch-Guyana mitverfolgen. Mit einem erfolgreichen Abflug ist die Anspannung aber noch lange nicht vorbei – im ersten Monat lauern viele Gefahren für das leistungsfähigste und teuerste je gebaute Weltraumteleskop.

STANDARD: Der ursprünglich schon für 2007 geplante Start des Teleskops musste immer wieder verschoben werden. Rechnen Sie damit, dass es noch in diesem Jahr klappt?

Hasinger: Auf jeden Fall. Wir arbeiten mit Hochdruck darauf hin.

STANDARD: Wenn Webb einmal abgehoben ist, wie geht es dann unmittelbar weiter?

Hasinger: Dann beginnt die Phase, die wir als 29 Tage des Terrors bezeichnen. So lange dauert es nämlich, bis sich die insgesamt über 300 einzelnen beweglichen Teile und mehr als 50 Mechanismen des Teleskops automatisch entfalten. Jeder Schritt muss hundertprozentig funktionieren, Fehler können wir uns nicht erlauben. Das ist auch einer der Gründe, warum es viel länger gedauert hat, alles endgültig zu testen und fertigzustellen.

STANDARD: Nach diesen ersten kritischen Wochen soll das Teleskop seinen kosmischen Arbeitsplatz rund eineinhalb Millionen Kilometer von der Erde entfernt erreichen. Was sind die nächsten Aufgaben?

Hasinger: Zuerst müssen die Instrumente getestet und kalibriert werden. Es gibt insgesamt vier Instrumente auf dem Raumschiff, zwei davon sind relativ einfach zu aktivieren: Das sind die Kameras, die wunderschöne Bilder machen werden. Aber die Spektrografen, die physikalische Daten in unterschiedlichen Wellenlängen sammeln, haben viele verschiedene Modi. Da gibt es auch wieder jede Menge Mechanismen, die erst getestet werden müssen, bevor es richtig losgehen kann. Und dann gibt es natürlich den Spiegel, der aus 18 Einzelspiegeln besteht, die ganz genau fokussiert werden müssen. Man bekommt beinahe Kopfweh, wenn man darüber nachdenkt.

STANDARD: Wann soll die wissenschaftliche Arbeit starten?

Hasinger: Wir gehen davon aus, dass die wissenschaftlichen Beobachtungen Mitte des nächsten Jahres beginnen können, im Juni oder Juli. Da gibt es zuerst Demonstrationsbeobachtungen, die der ganzen Wissenschaftscommunity zur Verfügung gestellt werden, damit jeder schon mal mit den Daten arbeiten kann. Dann gibt es eine Reihe von sogenannten Garantiezeitbeobachtungen, wo die Leute, die die Instrumente gebaut haben, ihren Obolus bekommen und das Teleskop nutzen dürfen. Und dann ist auch das erste Jahr an Beobachtungszeit schon vergeben.

STANDARD: Wie wird entschieden, wer das Teleskop für welche Beobachtungen nutzen darf?

Hasinger: Dafür kann sich jeder bewerben, der Andrang ist natürlich riesig. Entschieden wird von einem Peer-Review-Gremium, das besteht aus Wissenschaftern, die die Vorschläge in einem anonymisierten Verfahren bewerten und priorisieren. Man weiß also nicht, von wem die Anträge kommen, sondern schaut sich nur an, wie interessant sie wissenschaftlich sind. Wird ein Vorschlag abgelehnt, bekommt man Kommentare und Kritik, kann das überarbeiten und beim nächsten Mal wieder einreichen. Ich freue mich sehr, dass ich selbst mit meiner ehemaligen Studentin Beobachtungszeit ergattert habe.

STANDARD: Gratulation! Was haben Sie vor?

Hasinger: Wir werden versuchen, die ältesten Schwarzen Löcher zu entdecken. Webb beobachtet im Infrarotbereich und kann viel weiter in die Geschichte des Universums zurückblicken als andere Teleskope. Vermutlich kann man damit die frühesten Sterne sehen, die nach dem Urknall entstanden sind, hundert Millionen oder sogar nur 50 Millionen Jahre nach dem Big Bang. Wir wissen, dass auch Schwarze Löcher schon sehr früh entstanden sein müssen. Die Frage ist: Was war zuerst da – die Sterne oder die Schwarzen Löcher?

STANDARD: Wie wollen Sie nach solchen uralten Schwerkraftgiganten fahnden?

Hasinger: Wir haben etwas mehr als 20 Stunden Beobachtungszeit bekommen und werden damit acht weit entfernte Objekte beobachten, die nur Röntgen- und Infrarotstrahlung aussenden. Das ist ein typischer Fingerabdruck für Schwarze Löcher, die sehr weit entfernt oder hinter Gas- und Staubwolken versteckt sind. Wir hoffen, dass wir mit Webb Spuren von chemischen Elementen finden, die uns zeigen, aus welcher Zeit diese Objekte stammen.

STANDARD: Das James-Webb-Weltraumteleskop ist ein Gemeinschaftsprojekt von USA, Europa und Kanada. Wie sieht der europäische Beitrag aus?

Hasinger: Europa hat einen Anteil von 15 Prozent an dem Projekt. Von den vier Instrumenten des Teleskops haben wir eines komplett und ein zweites zur Hälfte beigesteuert. Und nicht zuletzt bringen wir Webb ins All und sind stolz, dass uns die Nasa ihr teuerstes Gerät anvertraut. (David Rennert, 19.12.2021)