Es ging dieser Tage im österreichischen Nationalrat um die Behandlung des sogenannten "Impfpflicht-Nein"-Volksbegehrens, das es auf 269.000 Unterschriften gebracht hatte. Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein räumte in seinem Debattenbeitrag ein, dass die mit 1. Februar 2022 gesetzlich festgelegte Impfpflicht zwar einen Eingriff in die Grundrechte darstelle, griff aber dann zu dem berühmten Zitat des berühmten deutschen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804), um das Argument der Impfgegner zu widerlegen, sie würden ihre Freiheit verlieren:

"Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt."

Das Problem ist, dass dieses Zitat bei Kant nirgends zu finden ist. Auch nicht bei dem französischen Philosophen Jean-Jacques Rousseau oder bei der deutschen Sozialistin Rosa Luxemburg, denen es ebenfalls unterschoben worden ist.

Was genau verstehen die gegen die Corona-Maßnahmen Demonstrierenden eigentlich unter "Freiheit"?
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Macht nichts. Was Mückstein und all die anderen, die den Spruch in Sachen Corona bereits verwendet haben, damit sagen wollen, ist: Die persönliche Freiheit des Einzelnen hat Grenzen, die durch das Allgemeinwohl gezogen werden. Diese Freiheit darf nicht so extensiv und rücksichtslos ausgelegt werden, dass sie anderen schadet.

Was verstehen sie unter Freiheit?

Die Corona-Demonstrierenden verstehen das in genau gegenteiligem Sinn: "Freiheit" ist für sie die Erlaubnis, in einer Seuche Schutzmaßnahmen wie Impfung oder Maskentragen zu ignorieren – auf Kosten der anderen.

Sehr praxisnah und direkt angewendet auf das Heute hat es die bekannte Gerichtspsychiaterin Heidi Kastner kürzlich im Falter formuliert: "Wenn ich meine Freiheit, nicht geimpft zu werden, beanspruche, spreche ich anderen indirekt das Recht auf zeitnahe Behandlung und damit auf körperliche Unversehrtheit oder gar das Leben ab. Das ist brutal, egoistisch und wirklich nicht klug."

Der so unterschiedlich deutbare Freiheitsbegriff geht letztlich auf die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 durch die Französische Revolution zurück: "Die Freiheit besteht darin, dass man alles das tun kann, was einem anderen nicht schadet. So hat die Ausübung der natürlichen Rechte eines jeden Menschen nur die Grenzen, die den anderen Gliedern der Gesellschaft den Genuss der gleichen Rechte sichern."

Geht es nur um Corona?

Aber geht es bei der "Freiheit" der Impfgegner nur um Corona? Ist es vielleicht die "Freiheit", aus einem als fremd und unbefriedigend, ja feindlich empfundenen "System" aussteigen zu wollen? Ist der Widerstand gegen die Corona-Politik eine Art Staatsverweigerung, eine Systemunzufriedenheit? Oder ein schon länger schwelender großer Frust über die eigenen Lebensumstände, der die Pandemie jetzt eben als Anlass nimmt? Geht es vielleicht um mehr als Corona?

Die Demonstrierenden, ob es nun esoterische Schamanentrommlerinnen sind oder amtsbekannte Rechtsextreme mit Hitlerjugend-Undercut und Sonnenrad-Tätowierungen oder auch ideologisch weniger ausgeprägte "Normalbürger". Sie sagen zwar, dass sie die Freiheit ihres Körpers verteidigen, in den nichts "hineingespritzt" werden soll. Aber das nimmt sofort auch eine (gesellschafts-)politische Dimension an: Die Demonstrierenden nehmen die Parole des rechten FPÖ-Chefs Herbert Kickl auf: "Österreich ist eine Corona-Diktatur".

Sie verwenden teils bewusst, teils politisch bewusstlos die Begriffe, Symbole und Märtyrerfiguren der furchtbarsten Diktatur Europas, um sich als Opfer darzustellen. Sie tragen Judensterne mit dem Aufdruck "ungeimpft" oder vergleichen ihren Widerstand mit dem der enthaupteten Sophie Scholl.

Toxische Gemengelage

Nicolas Stockhammer vom rechtsphilosophischen Institut der Donau-Uni Krems sagte bei einer Pressekonferenz des neuen Innenministers Gerhard Karner, zu Beginn der Corona-Pandemie sei es zu einer Polarisierung und ideologischen Spaltung der Gesellschaft gekommen. An den Demos beteilige sich ein "heterogenes Teilnahmefeld", von friedlichen Impfgegnerinnen und -gegnern über Esoterikerinnen bis zu "Reichsbürgern" (die den demokratischen Nachkriegsstaat nicht anerkennen und immer noch im Deutschen Reich leben wollen, Anm.), Rechtsextremen und Hooligans (gewalttätigen Fußballanhängern). Die Gemengelage sei "hoch toxisch".

Ähnlich argumentierte der Soziologe Johannes Kiess von der Universität Siegen im Gespräch mit der Deutschen Welle. "Was sie vereint, ist Frustration – nicht nur mit der Corona-Politik, sondern auch mit der Demokratie, mit politischen Institutionen."

Das ist in halb Europa so. In Frankreich waren es die Gelbwesten, die gegen die Verteuerung des für sie lebensnotwendigen Benzins gewalttätig protestierten, in Deutschland die Pegida, deren Motiv Fremdenhass ist, in den Niederlanden randalierten Jugendliche überwiegend aus dem Migrantenmilieu.

In den USA gibt es schon länger das Phänomen der Staatsverweigerer, der bewaffneten Milizen in Mittelwestkaffs, die sich von den "schwarzen Helikoptern" der Regierung oder der Uno fürchten. Sie sind schwerbewaffnet und gegen jede Staatsautorität. Aus ihren Kreisen rekrutierten sich die Erstürmer des Kapitols am 6. Jänner. Auch sie haben ihren Freiheitsbegriff: Sie wollen ihre Waffen frei tragen und freigesprochen werden, wenn sie Schwarze abknallen. Das ist für sie Freedom.

Tiefgreifende Vertrauenskrise

In Österreich ist der Frust inzwischen ein Mittelschichtsphänomen. Das renommierte Sora-Institut konstatiert in seinem jährlichen "Demokratie-Monitor", das "Systemvertrauen" sei auf dem tiefsten Punkt seit Erhebungsbeginn: Derzeit seien beinahe sechs von zehn Menschen (58 Prozent) davon überzeugt, dass das politische System in Österreich weniger oder gar nicht gut funktioniert.

Das Neue daran: Während sich die Menschen im unteren Drittel der Gesellschaft traditionell als missachtet und "Menschen zweiter Klasse" fühlen, trifft das seit der Pandemie nun auch Menschen des mittleren und des oberen Bevölkerungsdrittels.

Studienautorin Martina Zandonella: "Hierbei geht es nicht um ein 'Für oder gegen die Maßnahmen‘. Im Vordergrund steht ein Nicht-gesehen-Werden bei deren Ausgestaltung, das allen voran junge Menschen, Eltern von Kindergarten- und Schulkindern, Menschen in systemrelevanten Berufen und arbeitslose Menschen ausdrücken." All das bei ungebrochener Zustimmung zur Demokratie.

Die Rechten haben sich draufgesetzt

Diese "Normalbürger" wünschen wohl keinen Umsturz in Richtung eines autoritären Systems. Sie wollen Reformen, ein besseres Eingehen auf ihre Bedürfnisse. Doch ist es so, wie der deutsche Soziologe Spiess konstatiert: "Was wir überall gesehen haben, ist, dass sich Akteure aus dem rechten Spektrum an die Spitze stellen, mitorganisieren oder mobilisieren (...) Dieses Narrativ: 'Die Rechten kapern die Bewegung‘ ist Quatsch, sie waren von Anfang an dabei. Und es war von Anfang an für niemanden ein Problem"?

DER STANDARD

Österreich hat da wieder eine Vorreiterrolle. Die drittgrößte Parlamentspartei mit zuletzt (2019) 16,2 Prozent schließt das große Corona-Bündnis mit den Rechtsextremen.

Der FPÖ geht es ganz sicher nicht vorrangig um Corona, obwohl die Ideologie "Mein (deutscher) Volkskörper ist gesund" eine Rolle spielt. Es geht ihr um ein "anderes System". Um Delegitimierung der liberalen Demokratie. Das reicht zurück bis Jörg Haider, der in seinem programmatischen Buch von 1993 Die Freiheit, die ich meine ein "Plädoyer für die dritte Republik" führte: Zusammenlegung von Bundespräsident und Kanzler, Zurückdrängung des Parlaments, Regieren mit populistisch angeheizten Volksabstimmungen. Also ein klassisches populistisch-autoritäres Modell.

Übelste Anspielungen

Ähnliche Gedanken findet man bei der neuen, vordergründigen Corona-Leugner-Partei MFG – Menschen Freiheit Grundrechte (sie käme nach heutigen Umfragen bei Wahlen ins Parlament), mit der Andreas Sönnichsen, der soeben von der Med-Uni Wien entlassene Anti-Impf-Mediziner, sympathisiert.

"Gemeinsam für die Freiheit". "Frieden, Freiheit, Souveränität". "Der beste Sklave denkt, er ist frei". Das steht auf den Transparenten. "Kein Kompromiss zwischen Zwang und Freiheit", schreit Kickl in die Menge. "Impfen macht frei" steht, in übelster Anspielung auf das Motto über den Lagertoren der KZ, auf den Ansteckern der Demonstranten. Die Freiheit, die sie meinen, hat dazu geführt, dass Securitys vor Krankenhäusern, Medienbüros stehen müssen, Politiker und impfende Ärzte Morddrohungen erhalten.

Immanuel Kant formulierte 1793 kompliziert: "... ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (...), nicht Abbruch tut."

Man achte auf den Passus "nach einem möglichen allgemeinen Gesetze". Das Wesentliche bei Kant ist: Der Rahmen der menschlichen "Glückssucherei" wird nur durch den Rechtsstaat gesetzt. (Hans Rauscher, 18.12.2021)