Der deutsche Autor Nico Hoppe ärgert sich in seinem Gastkommentar über den heutigen politischen Protest, der immer mehr zum unpolitischen Lifestyle, zum Zeitvertreib tendiere.

Tax the Rich? US-Politikerin Alexandria Ocasio-Cortez kam zu einer Gala in einem Kleid mit Protestbotschaft.
Foto: AFP / Mike Coppola

Wer glaubt, dass politischer Aktivismus im 21. Jahrhundert angesichts von Politikverdrossenheit ein Auslaufmodell sei, muss sich seit einigen Jahren eines Besseren belehren lassen: Die "junge Generation" wird für ihre Politikaffinität und Protestfreudigkeit gefeiert, Fridays for Future und Black Lives Matter bringen global Massen auf die Straße, und in den sozialen Medien geziemt es sich derweil, möglichst expressive politische Statements zu verkünden und damit fügsam unter Beweis zu stellen, dass man auf der guten Seite steht.

Die Euphorie über jenes zunehmende Engagement unterschlägt allerdings, dass man dem zeitgemäßen Politaktivismus auf den Leim geht, wenn man ihn umstandslos als immer radikaler erschallenden Ruf der jungen Generationen nach einer gerechteren Welt entziffert. Beigesprungen wird den zeitgenössischen Massenbewegungen schließlich nicht zuletzt von globalen Konzernen und Regierungspolitikern. Das Image der Rebellion haftet dem politischen Aktivismus heute also zu Unrecht an.

Mit dem Gang zur Klimademo will der Durchschnittsprotestler seine Sorgen über den Klimawandel artikulieren und der Regierung fehlendes Verantwortungsbewusstsein vorwerfen. Wo sich frühere Protestbewegungen zumindest in ihrer Anfangszeit durch Provokation und Tabubruch auszeichneten, schwankt das aktivistische Gebaren heute zwischen konstruktiv-sachlich und altklug-schulmeisterlich: Protest entwickelt sich zum spröde anspornenden Belehrungsmarsch. Das ist politisches Engagement, das auch im Lebenslauf, beim Familientreffen oder auf Instagram einen anständigen Eindruck macht. Die Anziehungskraft liegt in der gemeinschaftlichen Verbundenheit, der gegenseitigen Anerkennung und dem belebenden Gefühl, scheinbar etwas zu bewegen.

Im Kollektivrausch

Der Kollektivrausch ist nicht der Effekt des Ganzen, sondern sein einziger Zweck. Denn es braucht nicht einmal eine der unzähligen jahrmarktartigen Demonstrationen, die in ihren Zielsetzungen teils so beliebig sind, dass meist zugleich gegen den Klimawandel, gegen Rassismus, für Trans-Rechte und "Empowerment" demonstriert wird. Schon eine populäre Online-Petition, eine einprägsame Hashtag-Kampagne oder ein ironisch-abgeklärtes Meme verleihen der progressiven Gemeinschaft den heißersehnten Nimbus aktivistischer Betriebsamkeit.

Niedrigschwellig, gut konsumierbar, nach innen augenzwinkernd und nach außen trotzig muss politischer Aktivismus auftreten, um derzeit breite Zustimmung zu finden. So konnte sich auch die US-Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez der Verzückung sicher sein, als sie die glamouröse Met-Gala in New York mit einem Kleid besuchte, auf dem groß der Schriftzug "Tax the Rich" prangte. Der US-Sender CBS wollte ursprünglich die Reality-TV-Show The Activist ausstrahlen, in der Aktivisten im Rennen um möglichst viel Klicks, Aufmerksamkeit und Geld für ihr wohltätiges Projekt antreten. Nach einiger Kritik kündigte man nur mehr eine Doku- Serie an.

"Niedrigschwellig, gut konsumierbar, nach innen augenzwinkernd und nach außen trotzig muss politischer Aktivismus auftreten."

So oder so lässt sich daran die Fusion von Protest- und Unterhaltungskultur zur massenkompatiblen Beschäftigungstherapie konzentriert nachverfolgen. Mit dem Kulturwissenschafter Mark Fisher ließe sich sagen, dass die Protestkultur im kapitalistischen Realismus aufgegangen ist. Der systemkritische Impuls wurde vom System erfasst und hat sich dem affirmativen Hintergrundrauschen des Bestehenden längst assimiliert.

Wenn sich die politischen Forderungen der politischen Linken vorrangig auf Appelle an Respekt, die richtige "Haltung" und diskriminierungsfreies Bewusstsein beschränken, dann ist sie schon lange nicht mehr Trägerin utopischer Überzeugungen, sondern vorrangig Interessenvertreterin jener linksliberalen Gemütslagen folgenden Avantgarde, die sich die Plätze im zukünftigen Staatsapparat bereits reserviert hat. Dass sie selbst nicht wissen, welche Wege ihnen offenstehen, liegt allein darin begründet, dass man paradoxerweise glaubt, man habe den Stand des widersetzlichen Aufständischen gegen den Status quo auf ewig.

Platteste Parolen

Je mehr die politischen Subjekte sich unbewusst mit ihrer Rolle als bloße Objekte einer Geschichte, auf die sie keinen nennenswerten Einfluss haben, abfinden, desto bunter, quirliger und kulturindustriell angepasster gestaltet sich der Protest, der sich in seiner Pose selbst genügt. Das erinnert nicht von ungefähr an die Überlegungen des marxistischen Theoretikers Guy Debord zur Bedeutsamkeit des Spektakels in westlichen Industrienationen: "Im Spektakel, dem Bild der herrschenden Wirtschaft, ist das Endziel nichts, die Entwicklung alles. Das Spektakel will es zu nichts anderem bringen als zu sich selbst."

Auf die Formen gegenwärtigen Protests trifft dies ebenfalls zu. Die uneingeschränkte Politisierung der Welt hat zugleich die Trivialisierung der Politik hervorgebracht. Sich noch mit den plattesten Parolen für die Umwelt und gegen Diskriminierung auszusprechen, ist teils milieuübergreifend zu so einer spielerischen Selbstverständlichkeit geworden, dass es keinen Sinn mehr ergibt, überhaupt noch von einem genuin politischen Akt zu sprechen: Politischer Aktivismus tendiert heute zum unpolitischen Lifestyle, zur angesagten Performance, zum vergnüglichen Zeitvertreib. (Nico Hoppe, 19.12.2021)