Wenig selbstkritisch reagierte Boris Johnson auf seine bisher vielleicht schlimmste Niederlage als Premier.

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"In aller Demut", behauptete Premier Boris Johnson am Freitagmittag beim Besuch eines Impfzentrums, akzeptiere er das Votum der Wähler von North Shropshire. Diese hatten der konservativen Regierungspartei bei der Nachwahl in der Nacht zuvor eine schallende Ohrfeige verpasst: Der Wahlkreis, der seit 1832 stets Tories nach London geschickt hatte, entschied sich diesmal für eine Liberaldemokratin. Einen "Wendepunkt britischer Politik" wollte der liberale Parteichef Edward Davey ausgemacht haben.

Nach wochenlangen Negativschlagzeilen hatten am Dienstag mehr als Viertel der Fraktion ihrem Regierungschef bei der Abstimmung über neue Corona-Einschränkungen die Gefolgschaft verweigert – darunter vor allem Erzkonservative und Libertäre. Die Rebellion blieb ergebnislos, weil die Labour-Opposition unter Keir Starmer alle Maßnahmen befürwortete.

Wähler blieben zu Hause

Wirkung aber dürfte das indirekte Misstrauensvotum vieler Tories gegen ihren eigenen Premier gezeigt haben: In Shropshire jedenfalls sahen sich viele jener lebenslangen Tory-Wähler bestätigt, die diesmal dem Premierminister einen Denkzettel verpassen wollten. Viele blieben zu Hause, andere entschieden sich für die regional verwurzelte Liberaldemokratin Helen Morgan. Dass die Tories einen Rechtsanwalt aus der 100 Kilometer entfernten Metropole Birmingham ins Rennen um die Gunst der Wähler von Oswestry geschickt hatten, machte manchen die Entscheidung leichter.

Vor allem aber drehte sich die Stimmung, seit in den vergangenen Wochen immer neue Fotos zu bestätigen schienen, dass voriges Jahr am Regierungssitz in der Downing Street fröhlich Weihnachtsfeiern begangen wurden, während im Land Kontaktbeschränkungen bestanden und ein Lockdown verhängt wurde. Besonders Furore machte eine Abbildung des Regierungschefs mit zwei Lametta-geschmückten Mitarbeitern. Der Premier und seine Leute hätten "die Öffentlichkeit zum Narren gehalten", fasste Labour-Chef Starmer die Stimmung im Land zusammen.

Party vorbei

Nicht umsonst höhnte die Wahlsiegerin Morgan nach ihrem triumphalen Sieg um vier Uhr morgens: "Boris Johnson, die Party ist vorbei." Statt 62 Prozent wie vor zwei Jahren holten die Konservativen diesmal nur 31, wodurch die Liberaldemokratin mit 47 Prozent den Wahlkreis gewinnen konnte. Ausdrücklich bedankte sich Morgan bei jenen Labour-Wählern, die aus taktischen Gründen für sie gestimmt hatten.

Die Nachwahl war überhaupt nur durch einen schweren politischen Fehler Johnsons nötig geworden. Der langjährige konservative Abgeordnete Owen Paterson hatte gegen klare Lobbyingregeln verstoßen und sollte deshalb vom Ältestenrat für 30 Tage vom Unterhaus ausgeschlossen werden – eine harte, aber völlig gerechtfertigte Strafe für "korrupte Handlungen", wie Ausschusschef Chris Bryant sagte. Angestachelt von seinen Brexit-Weggefährten hebelte Johnson mithilfe der konservativen Parlamentsmehrheit die geltenden Regeln aus. Schon tags darauf musste der Premier das Vorhaben zurückziehen. Daraufhin trat Paterson zurück.

Schnell ist es aus

Am Freitag erhoben sich prompt Stimmen, die den Chef unmissverständlich zur Umkehr aufriefen. "Ein Referendum über das Management in der Downing Street" sah Fraktionsveteran Roger Gale in der BBC. Er verwies dort auch auf die Brutalität, mit der die Konservativen erfolglose Parteichefs stürzen: "Beim nächsten Mal ist er dran." Ruth Davidson, bis vor kurzem Leiterin der schottischen Tory-Regionalpartei, stieß ins gleiche Horn. Johnson habe eine Warnung erhalten, er sei nun im "last chance saloon".

Aufgeregt kursierten im Parlament Spekulationen, wonach mehrere Hinterbänkler eine Vertrauensabstimmung über den Chef verlangt hätten. Johnson selbst gab sich ungerührt. Er verlegte sich auf Medienschelte: Statt von den Großtaten seiner Regierung wie der Booster-Kampagne gegen Sars-CoV-2 hätten die Menschen immer nur "eine Litanei von Dingen über Politiker" zu hören bekommen. (Sebastian Borger aus London, 17.12.2021)