Mariah Carey gehört zu den erfolgreichsten Musikerinnen der vergangenen Jahrzehnte.

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Wenn in den Tagen kurz vor Weihnachten überall "All I Want for Christmas Is You" von Mariah Carey zu hören ist, scheint ihr gegenüber kurz Weihnachtsfriede zu herrschen. Der Song gehört mittlerweile zu Weihnachten – genauso wie im Rest des Jahres die Häme über seine Interpretin. Was glaubt die eigentlich, wer sie ist? Diese Frage schwingt bei jedem Gespräch über Mariah Carey mit. Menschen, die Klatschzeitschriften nur im Vorbeigehen sehen, wenn sie in der Trafik ihren STANDARD kaufen, kennen mindestens eine Marotte der Sängerin. Legenden von Interviews, die sie nur im Liegen geben würde, kommen dann auf. Oder dass Carey keine Stufen steige. Oder dass sie wollte, dass bei einem Auftritt dutzende Kätzchen und Tauben freigelassen werden.

Welches Image Carey in der Öffentlichkeit hat, ist schnell klar: Sie ist eine Frau, die absurde Forderungen stellt. Weil sie eine Frau ist, die eine zu hohe Meinung von sich hat.

Dabei muss man nur ein bisschen hinter das Diven-Image spähen und entdeckt: Da glitzert und glänzt bei weitem nicht alles. Da wäre etwa Careys familiärer Hintergrund, der ihr späteres Leben und ihre Arbeit prägen sollte. In ihrer Biografie erzählt die Musikerin, dass sie sich als Tochter einer weißen Mutter und eines schwarzen Vaters nie wirklich einer Gruppe zugehörig gefühlt habe. Dazu kamen schwierige Familienverhältnisse. Die Familie ihrer Mutter brach den Kontakt nach der Heirat mit einem schwarzen Mann ab. Ihr Bruder soll laut Carey später gewalttätig gegenüber ihrer Mutter geworden sein. Sie selbst musste als Kind telefonisch um Hilfe rufen.

Hits in vier Dekaden

Die Sängerin sollte ihrer Herkunft zwar entwachsen, sie gleichzeitig aber in sich mittragen. Careys Mutter war ausgebildete Opernsängerin und leitete ihre Tochter als Kind an. Careys Stimme umfasst heute fünf Oktaven zwischen Alt und Sopran. Zusätzlich beherrscht sie das Pfeifregister, das höchste Gesangsregister der menschlichen Stimme. Carey ist aber auch stilistisch von ihrer Herkunft geprägt. Gospel-Einflüsse sind genauso aus ihrer Musik herauszuhören wie ihre Nähe zu Hip-Hop. In Interviews erzählte sie, dass sie mit Rap aufgewachsen sei und viele Interpreten bewundere. Im Lauf ihrer Karriere kooperierte sie öfter mit Hip-Hop-Größen wie wie dem Wu-Tang-Clan-Mitglied Ol' Dirty Bastard.

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Ihre stimmlichen Fähigkeiten und klugen Kooperationen sollten Carey Erfolg bescheren. Ihre ersten fünf Singles gingen jeweils auf Platz eins der US-Charts. Sie war die erste Musikerin, der das mit einer Debütsingle gelang. Zwischen 1990 und 2001 hatte sie in jedem Jahr einen Nummer-eins-Hit. Ihr Erfolg setzt sich bis heute fort. Sie hatte Nummer-eins-Hits in vier Dekaden: den 1990ern, den 2000ern, den 2010ern und 2020.

Erfolgreich und mit Preisen ausgezeichnet

Will man Careys Erfolg in Relation setzen, muss man zu den ganz großen Namen der Musikgeschichte schauen. Barbra Streisand und Carey sind mit je 68,5 Millionen verkauften Musiktiteln die meistverkauften Künstlerinnen in den USA. Mit insgesamt 19 Nummer-eins-Singles hat Carey nur einen topplatzierten Hit weniger als die Beatles. Bei 18 ihrer 19 Nummer-eins-Hits war Carey Co-Autorin, in fast allen Fällen auch zumindest Co-Produzentin. Um noch einmal den Vergleich zu den Beatles heranzuziehen: Keines der vier Bandmitglieder war bei einem einzigen der 20 topplatzierten Lieder Produzent, Ringo Starr und George Harrison haben bei keinem der Hits Songwriting-Credits.

Doch zurück zu Carey. Ihre Arbeit wurde immer wieder mit Preisen ausgezeichnet. Die Musikerin hat bisher unter anderem fünf Grammy Awards, 19 World Music Awards, 15 Billboard Music Awards und zehn American Music Awards gewonnen.

Liest man gesammelt von Careys Talent, ihren Errungenschaften und ihrem schwierigen Werdegang, fragt man sich unweigerlich: Woher kommt der Hohn ihr gegenüber? Warum kommt kein Artikel, kein Fernsehbeitrag und kein Gespräch ohne das Wort "Diva" aus? Weshalb geht es so wenig um ihre Leistungen, während man gleichzeitig Künstlern – Achtung, kein generisches Maskulinum – mit weniger kommerziellem Erfolg und Auszeichnungen allerlei Verschrobenheiten und sogar Gesetzesüberschreitungen durchgehen lässt?

Kardinalsünde Selbstbewusstsein

Die Antwort ist so einfach wie zynisch. Schwierige Männer fallen die Karriereleiter selten hinunter, sondern eher in die Kategorie missverstandene Genies. John Lennon hat etwa zugegeben, frühere Partnerinnen geschlagen zu haben. Die Beziehung zwischen Elvis und Priscilla Presley begann, als er 24 und sie 14 Jahre alt war. Led-Zeppelin-Gitarrist Jimmy Page hatte als Ende Zwanzigjähriger eine sexuelle Beziehung zum damals 14 Jahre alten Mädchen Lori Maddox. Diese Tatsachen werden nicht in jedem Bericht über die Musiker wiedergekäut.

Auch Carey war in Skandale verstrickt. 2017 drohte ein ehemaliger Bodyguard ihr mit Klage. Sie soll einmal nur in Unterwäsche bekleidet gewesen sein, während er seiner Arbeit nachging. Zudem soll Carey ihn und seine Mitarbeiter beleidigt haben. 2019 kam es zu mehreren Verfahren zwischen Carey, einer früheren Assistentin und der damaligen Managerin der Sängerin. Unter anderem warf die Managerin Carey vor, nackt vor ihr herumgegangen zu sein. Carey hatte die Vorwürfe damals zurückgewiesen. Das Verfahren ist außergerichtlich beigelegt worden.

Für die Öffentlichkeit scheint Carey aber einen viel gewichtigeren Fehler gemacht zu haben: Sie ist eine Frau, die sich ihres außerordentlichen Könnens bewusst ist und dementsprechend auftritt. Sie wartet nicht bescheiden und brav, bis ihr jemand sagt, dass sie gut ist. Statt "Wie macht sie das bloß?" fragt sich die Medienöffentlichkeit in Careys Fall lieber "Was bildet die sich ein?". Statt wegen ihrer Forderungen wie weißen Blumen im Backstage-Bereich ein missverstandenes Genie zu sein, bekommt Carey einen ganz anderen Stempel: schwierige Frau.

Diese Kardinalsünde bestrafte die Medienöffentlichkeit über Jahre hart. Neben den üblichen Kritikthemen – ihr Aussehen, ihr Gewicht, ihre Lebenspartner – verbissen sich die Medien in Careys Selbstbewusstsein. Selbst recht harmlose Forderungen für ihren Backstage-Bereich, wie Wasser auf Zimmertemperatur, wurden zu Diven-Gehabe überdreht.

Von verhöhnter Frau zu Diva

Als 2001 ihr Album "Glitter" im Vergleich zu ihren bisherigen Erfolgen hinter den Erwartungen zurückblieb, stürzte sich die Presse genauso darauf wie auf Careys private Probleme im selben Jahr. Die Sängerin hatte einen Zusammenbruch. Grund soll Erschöpfung gewesen sein.

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Carey kehrte 2005 mit dem Album "Emancipation of Mimi" in die Charts zurück und scheint sich seither auch öffentlich von Fremdzuschreibungen emanzipiert zu haben. In den folgenden Jahren spielte sie bewusst mit dem Bild, das die Öffentlichkeit von ihr hat. In einem Werbespot für Hostels spielte sie sich selbst und war so der Beweis, dass die günstigen Zimmer komfortabel genug für höchste Ansprüche sind. Ihr Instagram-Kanal ist heute bloße Inszenierung als Pop-Diva. Wer Einblicke in ein normales Leben erwartet, könnte genauso gut auf ein Rap-Album von Bruce Springsteen oder ein christliches Liederbuch von Black Sabbath warten.

Liberale Feministinnen können aus Careys Werdegang sicher eine Erfolgsgeschichte zaubern. "Es lohnt sich, sich durchzubeißen" und "Lean in" erzählen aber nicht die ganze Geschichte. Frauen wie Mariah Carey zeigen, dass die eigene Leistung herausragend sein kann und die Gesellschaft trotzdem entscheiden kann, dass man lächerlich ist. Es stimmt jedoch genauso, dass Carey sich davon nicht hat unterkriegen lassen. Aus dem Spott über eine schwierige Frau hat sie sich die Marke "Diva Mariah Carey" aufgebaut. Dass dieses Image auch eine Rüstung ist, versteckt Mariah Carey nun sehr gut – hinter sehr viel Glitter. (Ana Grujić, 24.12.2021)