Im Gastkommentar geht die französische Journalistin Joëlle Stolz der Frage nach, warum so viele Französinnen und Franzosen extrem rechte Parteien wählen.

Fast ein Drittel der Franzosen ist bereit, die extreme Rechte zu wählen. Wenn man die Umfrageergebnisse von Marine Le Pen, Éric Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan addiert (Letzterer hatte 2017 bei der Stichwahl Le Pen unterstützt), kommt man auf 31,5 bis 32 Prozent – dazu noch die konservative Kandidatin Valérie Pécresse, die sich die Lieblingsthemen dieser rechtsextremen Strömung, Einwanderung und Sicherheit, angeeignet hat.

Éric Zemmour lässt sich bei einem Wahlkampfauftritt von seinen Fans feiern. Der rechtsradikale Publizist tritt bei der Präsidentenwahl im April 2022 an.
Foto: AFP / Sebastien Bozon

Der Rechtsruck des französischen Politikfeldes ist eindeutig. Was sind aber seine Ursachen? Für den Politikwissenschafter Jérôme Fourquet ist vor allem die Blindheit der französischen Eliten erstaunlich: Sie schwärmen noch – wie vor kurzem Wirtschaftsminister Bruno Le Maire bei einer Debatte gegen Zemmour – von den "Trente Glorieuses" (1945–1975), der goldenen Zeit von starkem Wachstum und Vollbeschäftigung. Dabei ist das Land ein anderes geworden. Fourquet, Direktor einer Abteilung des Meinungsforschungsinstituts IFOP, beschreibt in La France sous nos yeux ("Frankreich unter unseren Augen", mit dem Journalisten Jean-Laurent Cassely als Co-Autor, Seuil 2021) die "große Metamorphose", die sich Ende 2018 in der Bewegung der Gelbwesten offenbarte.

Besetzte Kreisverkehre

Pariser Medien und Führungskreise waren damals fassungslos. So etwas hatten sie nie gesehen: Besetzung der Kreisverkehre und nicht der Fabriken, Parolen aus Fernsehserien statt aus dem Wortschatz der Gewerkschaft, Demonstrationen auf den Champs-Élysées statt wie sonst zwischen den Plätzen République und Nation, an Samstagen, weil die Demonstranten unter der Woche arbeiten. Es war der Aufstand des "peripheren Frankreichs": so der Titel eines Buches des Geografen Christophe Guilluy von 2014, als die Linke noch an der Macht war.

Die Spaltung zwischen diesem "France d’après" (Frankreich danach) und seinen Eliten ist umso stärker, zumal die einen den anderen fast nie begegnen. Die einen fahren mit Fahrrad oder TGV, die anderen mit Auto oder S-Bahn, sie wohnen auch in ganz unterschiedlichen Gegenden. Die Zeiten sind längst vorbei, als das "Schloss" der Familie De Wendel, einer Industriellendynastie in Lothringen, sich in der Nähe ihrer Eisenhütte befand. Die Pariser alte Bourgeoisie und die moderneren "Bobos" können mit einem Frankreich wenig anfangen, das Kebabs und Tacos isst, bei Discontern einkauft und Hip-Hop hört.

Der Grund für solche Umbrüche ist der profunde Wandel in der Wirtschaft. In Frankreich macht die Industrie laut Fourquet nur mehr zehn Prozent des BIP aus, gegenüber 24 Prozent in Deutschland. Die Berufe, die das französische Imaginäre geprägt hatten, verschwinden. 1983 gab es über 11.500 Fischerboote, heute sind es weniger als 4.500. 1988 gab es noch mehr als eine Million Bauern, 2017 waren es nur mehr 429.000.

Schlecht vertreten

Symbol dieser Veränderung: das Kohlebecken von Pas-de-Calais im Norden. Émile Zola hatte es in seinem Roman Germinal (1885) verewigt, 2012 wurde es von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt. Auf der Zeche Nr. 9 in Lens befindet sich eine Dependance des Louvre. "Innerhalb einer Generation", so der Politologe Fourquet, "hat dieses Territorium eine hochproduktive Aktivität gegen den Status eines Freilichtmuseums eingetauscht." Es ist jetzt eines der 200 Erholungs- und Vergnügungsparks Frankreichs.

Andere Berufe sind freilich entstanden, die "Bullshit-Jobs" des Anthropologen und Anarchisten David Graeber, Hauptfigur von Occupy Wall Street: wenig qualifizierte und schlecht bezahlte Jobs wie Zusteller oder Uber-Fahrer. Der Amazon-Staplerfahrer, laut Fourquet, ersetzte den legendären Stahlarbeiter von Renault. Letztere beschäftigt heute 48.000 Personen, weniger als die 50.000 Arbeiter von Onet, dem führenden Reinigungs- und Sicherheitsunternehmen in Frankreich. Hinzu kommen die Pflegeberufe, in denen hunderttausende Frauen arbeiten.

Diese Berufe werden von Gewerkschaften oder linken Parteien, die ohnehin immer schwächer werden, schlecht vertreten. In drei Jahrzehnten, behauptet Fourquet, haben sich die Franzosen von einer "Silo-Gesellschaft" verabschiedet, in der die Basis stolz auf ihre Eliten war. Jetzt haben wir eine "Blätterteig-Gesellschaft", in der die Würde, dieser Motor aller Kämpfe, meistens bedeutet, an der Konsumgesellschaft teilnehmen zu können. So haben Gelbwesten am 18. November 2018 den Disney-Park nahe Paris (jetzt das wichtigste touristische Ziel der Franzosen) blockiert, um freien Eintritt zu fordern.

Wenig ausgebildet

Die zweite große Veränderung betrifft die Bildung. Diejenigen, die sich mit Bullshit-Jobs zufriedengeben müssen, sind oft wenig ausgebildet. In den frühen 1980er-Jahren, als zwei Drittel einer Altersgruppe die Matura nicht erreichten, war das weniger stigmatisierend als heutzutage, wenn 80 Prozent die Hochschulreife erreichen. Aber eine undurchdringliche Mauer zwischen Massenfakultäten und sehr selektiven "grandes écoles", deren Absolventen mehrheitlich den bestens ausgebildeten Eliten angehören, hat sich verfestigt. Der soziale "Aufzug" funktioniert nicht mehr, materielles Erbe und Diplome wiegen heute viel zu schwer, meinen kritische Intellektuelle.

Wie kann man eine derartige Abwärtsspirale durchbrechen, in der manche eine "Rückkehr der 1930er-Jahre"und das Aufkommen autoritärer Regierungen wie in Polen oder Ungarn befürchten? Der Ökonom Thomas Piketty schlägt vor, eine gewisse Chancengleichheit wiederherzustellen, indem man jedem und jeder bei Volljährigkeit ein steuerfinanziertes Startkapital gibt.

Eine völlig unrealistische Idee? Auf jeden Fall wird es vordringlich, in Frankreich nach Lösungen zu suchen. Denn selbst wenn Präsident Emmanuel Macron in fünf Monaten wiedergewählt wird, könnte die extreme Rechte 2027 noch bedrohlicher werden. (Joëlle Stolz, 21.12.2021)