Auf Gran Canaria weiß man mehr. Denn wenn es nur ein Irrtum wäre, hätte man die Kalender ja wohl eingestampft. Oder nicht in den Verkauf gebracht. Aber in Maspalomas, dem Touri-Hotspot am Südzipfel der größten Kanareninsel, wurden die 2023er-Kalender prominent und ohne Verramsch-Rabatt feilgeboten.

Wer fragte, was das solle, bekam ein "You really do not know?" zu hören.

So was funktioniert: Zwei Tage später mutmaßte man in Strandcafés, dass das ja auch schon beim aufmerksamen Reinhören ins Englische 2022 klar werde: "twentytwenty, two" prophezeie die Version 2.0 des ersten Corona-Jahres. Und die könne, solle und dürfe man bitte überspringen.

Schließlich sei ja 2021 auch eher unleiwand gewesen.

Foto: Tom Rottenberg

Bloß: Kann man das wirklich in Bausch und Bogen sagen?

Vor allem: Nutzt es etwas, beim Erinnern nur auf das Schlechte zu schauen? Auf alles, was nicht ging. Auf alles, was nicht war.

Ist es nicht – gerade wenn der Blick nach vorne auch eher Düsteres findet – zielführender, sich an das zu erinnern, was schön war?

Erst recht, wo es um nix geht. Also um keine existenziell wichtigen oder gesellschaftlich, politisch oder sonstwie angeblich relevanten Themen oder Dinge. Denn auch wenn das Herumgerenne (und alles, was es begleitet) glücklich macht, sinnstiftend, gesund und sonstnochallerlei ist: Es ist am Ende des Tages nur Laufen.

Sich das – am Ende des Jahres – apokalyptisch-retrospektiv mieszureden ("Es begann damit, dass sie uns das Dusika weggenommen haben!") wäre leicht. Aber: Cui bono?

Darum: Focus on the good. Vielleicht helfen Ihnen meine – subjektiven – zehn Jahreshighlights dabei.

Foto: Tom Rottenberg

Gleich im Februar etwa stand ein Marathon am Programm. Nicht in Wien, aber doch: Der Tel Aviv Marathon fand unter dem Motto "All Running Together Separately" auf der ganzen Welt als "Virtual Run" statt. Und weil ich meinem alten Kumpel Sascha versprochen hatte, ihn über seinen ersten Sub-2-Halbmarathondistanz zu pacen, kofferten wir mit Startnummer durch das kalte, windige Winter-Wien. Dass die Veranstalter-App sich aufhängte, war egal: Die Finishermedaillen waren mit den Startnummern gekommen, Saschas Zeit auf meiner Uhr war korrekt – und ich happy, dass ich ohne spezifisches Training den 42er noch draufhatte. Nicht schnell, aber doch.

Außerdem schaffte es der "Emperor's Nonsens", unser "Gruß aus Wien"-Kaiserschmarrn-Carboloading-Video, sogar in eine israelische Nachrichtensendung.

Foto: Tom Rottenberg

Danach war Wettkampf-, aber nicht Laufpause. Erst im Mai wurde es wieder "ernst" – wieder mit einem "App-Run": beim "Wings for Life"-Worldrun.

Dort war ich heuer ebenfalls Pacer – und zwar bei einer, die ihren allerallerersten Bewerb lief. Dass es dann, wenn man nicht auf eine Ziellinie zu, sondern vor ihr davonläuft, "tricky" sein kann, sich ein Ziel zu stecken, steht auf einem Blatt, für das sich kein "Rookie" interessiert. Vorher.

Und wenn sich alles, wie in unserem Fall, punktgenau/a…knapp (eine Frage der Sichtweise) ausgeht, hat eh alles gepasst – das macht Lust auf mehr.

Foto: Tom Rottenberg

Davor hieß es aber "Go West": Im Bregenzerwald luden zu Sommerbeginn ein paar sympathische Spinner zum ersten größeren Gravel-Bike-Event Österreichs. "Into the Wold" hieß die dreitägige Veranstaltung, in der das "Schotterrennradfahren" (auch) als touristisches Asset präsentiert wurde.

Faszinierend war da nicht nur das Fahren durch eine der schönsten Landschaften Österreichs, sondern auch die Erregung, die das Biken mit geländetauglichen Rennrädern abseits des Asphalts bei Vertretern (es empören sich meist Männer) der "reinen Lehre" auslöste.

Muss man nicht verstehen, ist als "Clickbait"-Thema aber eine fast ebenso sichere Kugel wie die Frage nach der Zulässigkeit des shirtlosen Männer-Laufens.

Foto: Martin Granadia

Apropos "Verstehen": Wer in einer "Bubble" lebt, hält das, was er oder sie darin erlebt, irgendwann für normal. Affirmierende Algorithmen sozialer Medien braucht es da gar nicht, aber sie helfen enorm, den eigenen Tellerrand für den Rand des Universums zu halten.

Ab und zu die Außenperspektive aufs eigene "Being Dings" vorgesetzt zu bekommen ist also durchaus spannend und unterhaltsam – aber nicht zwingend heilsam. Jedenfalls haben mich Barbaras Beobachtung des "Podo-Poschers" beim Austria Triathlon in Podersdorf nicht "kuriert": Ich habe mich für das kommende Jahr schon wieder angemeldet.

Foto: Tom Rottenberg

Das Zeitfenster, in dem heuer so gut wie alle großen Events stattfanden, war klein. Sehr klein: Schon eine Woche nach "Podo" stand der Vienna City Marathon auf dem Plan. Dass ich zu dem ein gespaltenes Verhältnis habe, ist bekannt – spielte aber heuer gleich doppelt keine Rolle.

Zum einen, weil mein Wings-For-Life-Rookie unmittelbar nach jenem Lauf "als Nächstes: der Halbmarathon in Wien" gesagt hatte. Das ist meine – also die korrekte – Geschichte. Eine andere Version lautet allerdings, dass ich sie nach einer unbedachten "mit sehr viel Fantasie eventuell so interpretierbaren Kürzestansage" ohne zu fragen einfach für den VCM angemeldet hätte …

Egal: Ich pacete wieder – und es war hart. Richtig hart. Nicht nur für uns, sondern für viele. Und für zu viele zu hart: Es gab fast 100 Rettungsfahrten ins Krankenhaus – und einen Toten.

Warum dieser Horrorlauf dennoch hier aufscheint? Weil die Rettungskräfte noch Schlimmeres verhinderten – und es wichtig ist, ihnen "Danke" zu sagen. Auch bei Läufen, bei denen nix passiert.

Foto: Tom Rottenberg

Das Fundament des Lauf- – aber wohl des gesamten Breitensports – sind aber nicht die Megaevents: Ohne die Unzahl kleiner und kleinster Veranstaltungen, die jedes Wochenende in zahllosen Städten und Gemeinden stattfinden, gäbe es die Begeisterung für Wettkämpfe und Bewerbe nicht.

Exemplarisch für die vielen Macherinnen und Macher holte ich deshalb Ende September Alfred Sungi und seinen "Alfreds Lauf" vor den Vorhang: Während in Berlin 25.000 rannten, starteten bei dem Traditionslauf des Lauftrainer-Urgesteins von der Prater Hauptallee 250 Nasen.

Aber um Zahlen geht es nicht – sondern um Herzblut: Die Alfred Sungis dieser Welt brennen für das, was sie tun – und es liegt an jedem von uns, dieses Feuer nicht ausgehen zu lassen, andererseits aber auch mitzuhelfen, dass Sungi und Co nicht aus- und verbrennen.

Foto: Tom Rottenberg

Dass diese Gefahr real ist, bestätigte heuer Ilse Dippmann. Ihr Österreichischer Frauenlauf ist wahrlich keiner der "kleinen" Events – aber im Absagen-, Auflagen- und Lockdown-Wirrwarr waren Dippmann und ihr Partner Andreas Schnabl heuer an ihre Grenzen gestoßen: Wenige Tage vor dem Event überlegten sie, alles hinzuschmeißen – zogen den Bewerb dann aber durch.

Zum Glück. Weniger, weil Barbara so nach dem traumatischen VCM ein durch und durch positives Renn-Erlebnis über die Ziellinie brachte, sondern vor allem, weil der Frauenlauf wichtig ist.

Nicht für Frauen, die in Gender- und Gleichstellungsdebatten als starke und selbstbestimmte Wortführerinnen auftreten. Aber für all jene, die von (ihren) Männern oder ihrer Erziehung immer noch kleingehalten werden: Zu sehen oder zu spüren, wie viel Kraft und Selbstvertrauen frau (aber auch man) aus einer vermeintlich so banalen Aktivität wie dem Laufen gewinnen kann, ist mehr "Empowerment", als jede Politkampagne schafft.

Foto: Tom Rottenberg

Eine Woche nach dem Frauenlauf standen wir wieder am anderen Ende des Landes an einer Startlinie: beim Dreiländer Marathon.

Von Lindau das Bodenseeufer entlang über die Bregenzer Seebühne und das Hinterland der vorarlbergischen Landeshauptstadt geht der Halb-, noch ein bissel hinüber in die Schweiz der ganze Marathon – und das bei perfekten Laufbedingungen.

Für Barbara war es der zweite Halbe – und auch wenn es in der Theorie natürlich klar ist, welchen Unterschied ein paar Grad mehr oder weniger ausmachen, ist das "Aha"-Erlebnis unterwegs (und erst recht im Ziel) gewaltig.

Das zweite "Learning": Vorarlberg ist flach. Viel flacher als Wien. Zumindest aus dieser Perspektive.

Foto: Tom Rottenberg

Aber das mit den Wiener Höhenmetern ist eh bekannt. Meine Tiroler Bergführerfreunde sind jedes Mal überrascht, wenn wir im Wienerwald unterwegs sind.

Die Trailrouten U4-U4 (also von Heiligenstadt nach Hütteldorf) oder "RUdL" ("Rund um den Lainzer Tiergarten") etwa sind alles andere als Spaziergänge. Wenn man sie kombiniert (und noch ein paar andere Wiener Stadtwanderwege dazugibt), wird daraus "Wien Rundumadum": Eigentlich ein 130-Kilometer-Etappenwanderweg rund um die Stadt, der seit 2014 aber auch als "Ultra" (also bei einem Mehr-als-ein-Marathon-Event) belaufen wird.

Da man das Ding auch als Staffel angehen kann, versuchten meine Vereinsbuddies und ich das heuer – und liebten jeden Meter (auch wenn wir uns dann natürlich irgendwo doch verkofferten und etliche Extrakilometer machten): eine echte Empfehlung. Nächstes Jahr sind wir wieder dabei. Vermutlich mit mehr als einer Staffel – und eventuell hat der eine oder andere von uns ja sogar "Ultra"-Blut geleckt …

Foto: Tom Rottenberg

Mich würde das jedenfalls reizen – obwohl ich vor allem, was über die 42 hinausgeht, mehr als Respekt habe.

Denn wie sich die eigenen Grenzen anfühlen, habe ich mir Ende November dann – diesmal tatsächlich – in Israel angeschaut: Beim Eilat Desert Marathon erfüllte ich mir einen Traum und ein Versprechen aus 2019. Damals war ich in der Wüste den Halben gelaufen – und hatte mich schon im Ziel geärgert.

Nicht über den Lauf, sondern über mich selbst: Ich hatte da vor dem Start dieser staubigen, schattenlosen Strecke über rutschende Sand- und Schotterhügel nämlich auf die Stimme der Vernunft gehört – und war "nur" einen Halbmarathon gelaufen. Eine rational gesehen richtige, grundvernünftige Entscheidung.

Aber Träume hat man nicht, um sie der Vernunft zu opfern – also war ich heuer unvernünftig.

Das war richtig – und wichtig.

Und das nehme ich mit ins Neue Jahr: Träume sind dazu da, wahrgemacht zu werden. Zumindest versuchen sollte man es. Scheitern ist da natürlich immer eine Option – aber die einzige relevante Niederlage wäre, es nicht versucht zu haben.

Nicht nur beim Laufen.

(Tom Rottenberg, 28.12.2021)

Foto: Tom Rottenberg