Digitale Rekonstruktion eines neolithischen Grabhügels in Großbritannien.
Illustr.: Reich et al. Nature

Die Analyse prähistorischer menschlicher DNA aus einem der am besten erhaltenen neolithischen Gräbern Großbritanniens lieferte spannende Details über die Lebensweise der damaligen Bevölkerung. Unter anderem zeigte sich, dass die meisten der dort beigesetzten Menschen fünf Generationen einer einzigen Großfamilie entstammen.

Es dürfte sich demnach um einen polygamen Clan früher britischer Steinzeitbauern handeln, der in dem Hügelgrab mit zwei L-förmigen Kammern Angehörige seiner Familie beigesetzt hat, wie der Wiener Anthropologe Ron Pinhasi und sein US-Kollege David Reich im Fachjournal "Nature" berichten. Der Mann, zwei seiner Frauen und deren Nachkommen landeten in der nördlichen Kammer, jene der anderen Frauen in der südlichen.

44 Menschen im Grabhügel

Der Grabhügel Hazleton North wurde von 1979 bis 1982 von Archäologen schichtweise abgetragen und inspiziert. Sie fanden dabei die Überreste von mindestens 44 Menschen. Sie gehörten zu den ersten Steinzeitbauern im heutigen England und lebten vor 5.700 Jahren. Ihre Vorfahren stammten größtenteils vom europäischen Festland und hatten die Landwirtschaft wenige Generationen (in etwa 100 bis 200 Jahre) zuvor auf die britischen Inseln gebracht. Ein Team um Pinhasi vom Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien und Reich von der Harvard Medical School in Boston konnte in der aktuellen Studie das Erbgut von 35 Individuen sequenzieren und ihre Verwandtschaftsverhältnisse rekonstruieren.

Die beiden L-förmigen Kammern im Grabhügel Hazleton North.
Foto/Illustr.: Reich et al. Nature,

27 Personen waren nahe verwandt und Teil einer Großfamilie, die ein in der Nordkammer begrabener Mann mit vier Frauen hervorbrachte. Zwei Frauen und ihre Abkömmlinge wurden ebenfalls in der Nordkammer bestattet, die Nachkommen der anderen beiden Frauen in der südlichen. Die damalige Gesellschaft legte offensichtlich Wert darauf, die Unterscheidung der mütterlichen Linien "anhand der Grabkonstruktion hervorzuheben" so die Forscher: "Auffällig ist außerdem, dass männliche Nachkommen stets mit ihren Vätern und Brüdern gemeinsam begraben wurden."

Patrilineare Beisetzungsregeln

"Auch Töchter, die im Kindesalter verstorben waren, wurden in der Grabstätte gefunden", berichten sie. Erwachsene Töchter wurden dort aber nicht bestattet. Die damalige Gesellschaft war demnach offensichtlich nach vaterschaftlichen Linien (patrilinear) organisiert, meinen die Forscher. Die männlichen Nachkommen verblieben im ursprünglichen Clan, und die Frauen wechselten offenbar in die Gruppen ihrer Gemahle.

Drei der bestatteten Frauen und fünf Männer gehörten nicht zur näheren Verwandtschaft. "Die Frauen könnten Partnerinnen der Männer aus der Familie gewesen sein, die keine Kinder zur Welt brachten, oder hatten Töchter, die sich anderen Gruppen angeschlossen hatten", vermuten die Wissenschafter. Die Männer wären offensichtlich "adoptierte Stiefsöhne".

Nachkommen aus der "herrschenden Linie"

Außerdem wurden Frauen teils in die Familie "wieder-eingeheiratet", die verwitwet oder geschieden waren, oder vielleicht wurde ihr Gatte auch getötet, erklärte Pinhasi. Sowohl ihre vorigen Kinder, als auch weitere Nachkommen mit Vertretern der "herrschenden Linie" im Clan wurden in der Anlage begraben. Das zeige, dass sie einen "angemessenen" Status genossen. "Diese Studie gibt uns einen beispiellosen Einblick in die Verwandtschaft in einer neolithischen Gemeinschaft", sagt Chris Fowler von der Newcastle University, Erstautor und leitender Archäologe.

Der Hazleton-North-Familienstammbaum.
Grafik: Newcastle University.

Massenmigration nach Britannien

In einer weiteren Studie in der selben Ausgabe von "Nature" berichten Pinhasi und Reich von einer "Massenmigration nach Britannien" während der späten Bronzezeit. Bisher waren zwei frühere Einwanderungswellen bekannt: Zunächst kamen die ersten Jungsteinzeitbauern vor etwa 5.900 Jahren vom Festland, zu denen auch die Individuen aus dem Grabhügel Hazleton North gehörten. Vor etwa 4.450 Jahren kam dann eine zweite Besiedlungswelle von Bauern an, die in der Steppe zwischen dem Schwarzen- und Kaspischen Meer ihren Anfang nahm und bis ins heutige England und Schottland schwappte. Sie ersetzten damals die lokalen Bauern auf der Insel zu 90 Prozent.

Das "alte Erbgut" von 793 Individuen, die vom äußersten Süden Englands bis ins nördlichste Schottland gefunden worden waren, verriet den Forschern zudem, dass es eine dritte große Migrationswelle gab. Sie fand vor etwa 3.000 Jahren statt. Die Migranten stammten wohl aus dem heutigen Frankreich und mischten sich etwa zur Hälfte in die Bevölkerung von England und Wales, kamen aber nicht bis nach Schottland. Dort ist der Anteil der "Steppe-Abstammung" bei der heutigen Bevölkerung dadurch höher als in England.

Die Aufnahme zeigt das Skelett eines der vier untersuchten Individuen, die auf eine bronzezeitliche Migrationswelle nach Südbritannien hinweisen.
Foto: Wessex Archaeology

Frühe Milchprodukte auf den britischen Inseln

Sie brachten wohl auch die keltische Sprache schon in der späten Bronzezeit auf die Insel, und nicht erst in der Eisenzeit, wie man bisher glaubte, so die Forscher. Außerdem unterschied sich die Lebensweise der damals angestammten Briten und der Migranten offensichtlich deutlich.

Die Einheimischen trugen häufiger eine Genvariante, die sogenannte Laktose-Toleranz, die es Menschen ermöglicht, Milch nicht nur als Babys, sondern auch als Erwachsene zu konsumieren, ohne davon Bauchschmerzen und Durchfall zu bekommen. Sie entstand demnach in Großbritannien ungefähr ein Jahrtausend früher als auf dem Festland, meinen die Forscher. "Wahrscheinlich waren Milchprodukte in der späten Bronzezeit in Britannien wirtschaftlich wichtiger als in Zentraleuropa", erklärte Pinhasi. (red, APA, 23.12.2021)