In Krisenzeiten erhalten profane und klerikale Heilsunternehmer Aufwind, sagt der Sprachphilosoph Paul Sailer-Wlasits im Gastkommentar. Er fordert: Die Kirche solle aus ihrem partiellen Schweigen heraustreten.

Bild nicht mehr verfügbar.

Gegenprogramm "Wokeness"?
Foto: Getty Images

Das Gefühl des "es lohnt sich kaum noch" nimmt überhand, das Phänomen der Erschöpfung ist mit freiem Auge sichtbar. Zuflucht wird nicht mehr nur im zwischenmenschlichen Bereich gesucht, sondern auch in analogen und digitalen Drogen. Letztere basieren auf vermeintlichem Zuspruch, auf trügerischer Anerkennung durch digitales Scheinfeedback. Die Mechanismen des digitalen Selbstbetrugs greifen und erfassen derzeit viele.

Die Gesellschaft resigniert mitten im digitalen Fortschreiten. Diskussionen degenerieren zu Scheingefechten. Die sprachlichen Siege des Vulgären schreiten unaufhaltsam voran, wie auch Social-Media-Phänomene zeigen. Im Kern der Shitstorms dominieren das Niedrige, das Pöbelhafte und Fanatische den Diskurs. In pandemischen Zeiten werden die Sprachwege von der Vereinfachung zum Vorurteil kürzer. Die Grenzen zwischen Angstbildern und Feindbildern verschwimmen, und der "digitale Stammtisch" wird von allumfassendem Verkürzungs-zwang statt differenzierter Debatte dominiert.

Pöbelei als Normalsprache

Auch etablierte Werte drohen zu zerfallen, denn die immanenten, in diese eingeschriebenen Ziele können digital nicht ersetzt werden. Als ob die gesellschaftliche Mitte allmählich erodierte, entfernen sich die "Bubbles" von politischen Anhängern und Gegnern immer weiter, immer fanatischer voneinander. Die vertikale Segregation hat zwar nicht in der Digitalisierung begonnen, sie hat sich jedoch durch diese beschleunigt und verfestigt. Kaum jemand kann, so gut wie keine politischen Kräfte wollen dieser Tendenz Einhalt gebieten. Wächst daher in Zeiten pandemischer Ermattung die Gefahr der geistigen und materiellen Korruption?

"Pandemie und Hate-Speech sind in einer unheilvollen Mesalliance verstrickt."

Zudem verfällt die politische Sprache – jene der und in der Politik – kontinuierlich; und das nicht erst, seit in Washington 140 Zeichen als politische Position zu gelten begannen. Pandemie und Hate-Speech sind mittlerweile in einer unheilvollen Mesalliance verstrickt. Das Aufrechterhalten von Missverständnissen und Feindbildern, das Schüren von Konflikten kann sprachlich stets als Folgewirkung des pandemischen Ausnahmezustands maskiert werden.

Dazu zählt auch der diffuse, wachsende Hass auf Forscherinnen und Forscher, Wissenschafterinnen und Wissenschafter im Allgemeinen, die mit politischen Entscheidungen in Verbindung gebracht werden. Auch die Stellvertreteraggressionen gegenüber und Einschüchterungen von gesellschaftlich exponierten Menschen, wie etwa Landes- und Kommunalpolitikerinnen und -politikern, sind Indikatoren dafür, dass die Diskursräume des jeweiligen Gegenübers kaum noch betreten werden. Populistische Sprachentgleisungen und Feindbildrhetorik mutieren folglich rasant zur Normalsprache.

Geballte Macht

Seit Jahren entstehen gesellschaftliche und sprachliche Gegenpositionen, bei denen gleichfalls Anspruch und Wirklichkeit häufig auseinanderklaffen. Im Kampf um Toleranz und soziale Gerechtigkeit erschöpft sich die Wirkung der sogenannten Mikroaggressionen nicht nur im Appell. Ihre geballte Macht beendet auch Karrieren Andersdenkender, Cancel-Culture inklusive.

Ähnlich verhält es sich bei der jüngst zu breiter Bekanntheit gelangten "Wokeness", einer Bezeichnung für gesteigertes Niveau an Aufmerksamkeit, Wachsamkeit und Feinfühligkeit hinsichtlich sozialer Missstände und Diskriminierungstendenzen. Trotz positiver Ausrichtung von "woke" dominiert mittlerweile das Appellative, die Gerichtetheit des Anspruchs an das jeweilige Gegenüber. Die Schwäche des Begriffs wird erst in seinem Innenverhältnis offenbar, an der fehlenden Identifikationsmöglichkeit. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als "woke". Es ist stets der oder die andere, dem beziehungsweise der "staywoke" abverlangt wird.

Infamie des Vulgären

Im Zeitalter der Verdüsterung holt die Vulgarität zum vermeintlich letzten Schlag gegen die Kultur aus, indem sie die Entbehrlichkeit von Kunst euphorisch lebt. Hierzulande zerbricht gegenwärtig zwar nicht die Kultur als solche, es zerbrechen in erster Linie die Kultur Hervorbringenden und gesellschaftlich Feinhörigen. Und sogar das Internet hat mittlerweile seinen Anfangsmythos widerlegt: Es vergisst sehr wohl. Und nicht nur das, es wurde mittlerweile zur großen, unbarmherzigen Überschreibmaschinerie, in der sogar Wahres, Gutes und Kluges durch Neues überschrieben wird.

In Krisenzeiten – und die Varianten und Mutationen von Covid-19 erzeugen und verstärken diese –, erhalten auch profane und klerikale Heilsunternehmer Aufwind. Sie erleben eine Art konfessionelle Hochkonjunktur, da sich die Nachfrage zu ihren Gunsten verschiebt und Menschen sinnsuchend zu ihnen kommen. Es wäre gerade jetzt an der Zeit, dass hierzulande die katholische Kirche aus ihrem partiellen Schweigen herausträte und der Gesellschaft, ganz im Sinne Pierre Bourdieus, die Nachhaltigkeit ihrer sozialen Ordnungsmacht wieder zur Verfügung stellte. (Paul Sailer-Wlasits, 25.12.2021)