Der Entscheidung ging ein langes Zaudern und Zögern voraus, aber jetzt steht es fest: Marianne wird über die Feiertage gemeinsam mit ihrem Ehemann ihre Schwiegereltern besuchen. Es wird nicht einfach werden, denn die Konflikte sind seit Ausbruch der Pandemie zahlreich. Der Vater ihres Partners ist ein großer Kritiker der Corona-Maßnahmen. Er glaubt nicht an Lockdowns oder daran, dass das Impfen entscheidend sei, um der Krise ein Ende zu bereiten.

Die anfängliche Überlegung, das Thema vor Weihnachten einmal mehr anzusprechen und damit zumindest kurzfristig aus der Welt zu schaffen, hätten sie und ihr Mann wieder verworfen. "Wir werden das Thema nicht ansprechen", sagt Marianne, die anonym bleiben möchte. Zu groß sei das Potenzial, sich ansonsten das Weihnachtsfest zu verderben. "Versöhnung wird es wahrscheinlich keine geben."

Weihnachten, das ist das Fest der Liebe und der Versöhnung, aber auch des Streits – immer schon. Es existiert ein Idealbild davon, wie der Feiertag abzulaufen hat, nämlich als fried- und freudvolles Familienzusammenkommen. In der Realität trifft dies nicht immer zu – und das nicht erst seit Beginn der Pandemie.

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Der Wunsch nach Versöhnung ist einer, der mit den anstehenden Feiertagen verstärkt aufkommt.
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Denn zu Weihnachten kommen Menschen zusammen, die oft ansonsten das ganze Jahr über völlig unterschiedliche Leben führen. Eltern wohnen plötzlich wieder mit ihren erwachsenen Kindern unter einem Dach, die häufig ganz andere Vorstellungen davon entwickelt haben, was richtig und wichtig ist: Die Frage, ob man vegan leben soll oder es unhöflich ist, am Esstisch aufs Handy zu starren, kann dabei ebenso zu Streit führen wie alte Verletzungen und unverdaute Kränkungen – sie kochen hoch, wenn alle in ihre alten Rollen zurückfallen.

Wunsch nach Versöhnung

Für ein paar Stunden oder gar Tage sämtliche Differenzen beizulegen kann sich da schon als ein schwieriges Unterfangen herausstellen. Dabei sei der Wunsch nach Versöhnung prinzipiell schon einer, der mit den anstehenden Feiertagen verstärkt aufkomme, sagt die Psychologin und Mediatorin Katharina Oppolzer: "Weihnachten ist wie ein Kristallisationspunkt. Die Zeit davor und danach ist ein Therapie-High-Noon: Man trifft sich wieder, hat bestimmte Erwartungen – da prallt man mit vielen ungelösten Konflikten im Gepäck zusammen."

Zudem stehen die Zeiten generell auf Unversöhnlichkeit. Die Pandemie hat den gesellschaftlichen Zusammenhalt vergiftet, der Umgang damit entzweit Freundschaften und Familien. Seit Beginn des Jahres wird außerdem in Österreich geimpft, und spätestens seitdem münden Auseinandersetzungen noch schneller in Angriffe. Zwei Jahre sind seit dem Ausbruch des Coronavirus ins Land gezogen. Ulrike Zartler stellt heuer allerdings eine Veränderung fest, die im Vergleich zum Dezember 2020 noch hinzukomme: "Das ist das erste Corona-Weihnachten, bei dem es zahlreiche Handlungsmöglichkeiten gibt", sagt die Soziologin an der Universität Wien: Das Testangebot ist größer, die Impfung steht allen zur Verfügung. Die Uneinigkeit, die sich bei diesen Themen ergebe, spalte nun verstärkt die Gesellschaft – und allen voran Familien.

Zartler befragt seit Beginn der Pandemie Eltern zu ihrer Situation und bemerkt: "Selbst bei jenen, die zuvor eigentlich ganz gut miteinander ausgekommen sind, gibt es jetzt oft Unstimmigkeiten." Manchmal verhärten sich die Fronten dabei so sehr, dass der Disput alle Familienmitglieder stark belaste, erzählt Zartler. Einige ihrer Befragten hätten es gar vorgezogen, wenn die Regierung Treffen zwischen Geimpften und Ungeimpften verunmöglicht oder den Lockdown für Ungeimpfte über die Feiertage nicht aufgehoben hätte. "Sie hätten das als Erleichterung angesehen." Denn: So hätten sie sich die Rechtfertigung dafür erspart, wenn sie die ungeimpfte Verwandten dieses Jahr lieber nicht besuchen wollen.

Zuhören und Planen

Diese nämlich, so erzählen es Zartlers Gesprächspartner, hätten sie in den vergangenen Monaten von einer Seite kennengelernt, die ihnen bisher fremd gewesen sei. Eine Versöhnung hält die Soziologin dennoch für möglich – sie werde aber nicht an nur einem Tag zu bewerkstelligen sein. "Dass sich mit dem Weihnachtsfest alles in Wohlgefallen auflöst, ist unrealistisch." Was aber sehr wohl realistisch sei: zu Weihnachten einen ersten Schritt aufeinander zuzugehen.

Etwa so: "Vielleicht könnte sich der Opa, der sich nicht impfen und nicht testen lassen will, ausnahmsweise testen lassen – als Beitrag dazu, dass die Familie miteinander feiern kann. Die anderen wiederum könnten das als seinen Beitrag akzeptieren." Zartlers Empfehlung für etwaige Diskussionen: interessiert zuhören, nachfragen und sich mit einer Bewertung zurückzuhalten. "Dinge einfach stehen lassen, ohne das Ziel zu verfolgen, den anderen zu überzeugen, dass die eigene Meinung die richtige ist." Zuhören hält auch die Psychotherapeutin Oppolzer für einen guten Schritt in Richtung Versöhnung: "Es ist extrem beruhigend für uns Menschen, wenn wir das Gefühl haben, es wird uns zugehört. Das kann auch ein Stück weit die Luft rausnehmen." Auch helfe es, sich zuvor Gedanken darüber zu machen, welche Dinge man ansprechen wolle und welche nicht. Nicht jedes Thema wiederum müsse besprochen werden, Konflikte könnten auch einmal ruhen.

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Versöhnung gibt es sowohl im kleinen Rahmen (mit Partnern, in Freundschaften oder mit einem Täter) nach einem Verbrechen als auch zwischen verschiedenen Volksgruppen oder Völker nach Kriegen oder Konflikten.
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Der Begriff Versöhnung ist ein im Grenzgebiet zwischen Theologie, Philosophie und Recht angesiedelter Begriff, der längst in die Psychologie und politische Rhetorik Einzug gefunden hat. Welche konkrete Idee ihm zugrundeliegt, ist kulturabhängig. So setzt das Altgriechische andere Akzente als der Buddhismus oder die Hawaiianer. Das deutsche Wort entstammt dem mitteldeutschen Wort "versuenen", das sich vom Stammwort "Sühne" ableitet. Dieses wiederum hat seine Wurzeln im althochdeutschen Wort "suona", das Gericht oder Urteil bedeutet.

Katharina Oppolzer zieht dem Wort "Versöhnung" den englischen Begriff "Reconciliation" vor. Dieser drücke besser den Versuch aus, etwas zurückgewinnen zu wollen, das verlorengegangen ist, das zuvor aber verbunden hat. Auch die Psychologin und Therapeutin Ulrike Schiesser rät dazu, an Gemeinsames anzuknüpfen: "Das Positive, das noch verbindet, gehört in den Vordergrund gestellt, sonst gewinnt das Trennende Überhand." Schiesser arbeitet seit mehr als zehn Jahren in der Bundesstelle für Sektenfragen.

Die staatliche Serviceeinrichtung berät bei Fragen zu Weltanschauungen und damit auch Verschwörungstheorien, deren Anhängerschaft seit der Pandemie deutlich zunimmt – Sorgen und Ängste machen Menschen anfälliger dafür. Vor allem Angehörige klopfen an der Tür oder greifen zum Telefon, um ein Beratungsgespräch bei Schiesser und ihren Kolleginnen und Kollegen zu suchen. Ihnen fehlt es schlichtweg an Erfahrung, wie sie mit Verschwörungstheoretikern unter ihren Lieben umgehen sollen.

Kurz vor Weihnachten erreichen Schiesser besonders viele Anfragen. Sie rät dann, den sprichwörtlichen Elefanten im Raum zu benennen: nämlich dass man einander wohl nicht unter dem Christbaum überzeugen werde und sich daher ausmachen müsse, wie man vorgehen wolle. Das solle möglichst vor dem Treffen geklärt sein. Am Heiligabend gelte es dann "Reibungsflächen zu minimieren".

Ein weiterer Tipp: eventuell die gemeinsame Zeit verkürzen. Und im Hinterkopf behalten: "Als Familie muss man die langfristige Perspektive im Auge behalten." Denn die Familie bleibe, auch nach der Pandemie – und in einem halben, vielleicht in einem Jahr, sei schon wieder alles anders.

Gesellschaftliche Ebene

Das gilt nicht nur für die Verwandtschaft. Die Menschen sind auch als Gesellschaft aufeinander angewiesen. Susanne Boshammer, die als Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Osnabrück im deutschen Niedersachsen lehrt, sagt: "Wir brauchen einander, wir werden auch in Zukunft noch miteinander zu tun haben. Das allein ist schon ein wichtiger Grund, warum wir uns um Versöhnung bemühen sollten." Dazu gebe es gewissermaßen auch keine Alternative: "Wir können uns nicht dauerhaft auf die soziale Flucht begeben. Das ist ja kein gutes Leben, es kostet extrem viel Kraft."

Auch die Regierung hat Versöhnung neuerdings verstärkt für sich entdeckt. Neo-Bundeskanzler Karl Nehammer betonte mehrmals, das durch Corona zerstrittene Land wieder zusammenführen zu wollen. Ausgerechnet der ehemalige Milizsoldat mit Hang zu martialischen Metaphern plädierte für das "Abrüsten der Worte auf allen Seiten" und ein Ende der gegenseitigen Schuldzuweisungen in der Pandemie.

"Weihnachten ist wie ein Kristallisationspunkt. Die Zeit davor und danach ist ein Therapie-High-Noon."
Katharina Oppolzer, Psychologin

Damit ging auch eine Veränderung im Tonfall einher, der bei seinen Vorgängern im Amt den Umgeimpften gegenüber mitunter harscher ausgefallen war. Dass Nehammer "das Gemeinsame als Schlüssel, um aus der Krise zu kommen" erachte, hielt er in seiner Regierungserklärung Mitte Dezember fest. Seine Amtszeit startete er mit einem Dialogangebot.

Symbolisch erging dieses an alle, auch den nichtgeimpften Teil der Bevölkerung, und ganz konkret strecke er seine Hand außerdem in Richtung des impfskeptischen FPÖ-Chefs Herbert Kickl aus.

Versöhnung ist längst Bestandteil vieler politischer Ansprachen. In den USA etwa, wo vier Jahre Donald-Trump-Präsidentschaft eine noch tiefer gespaltene Gesellschaft hinterlassen haben, richtete Trumps Nachfolger Joe Biden unmittelbar nach seinem Wahlsieg im November des Vorjahrs einen Versöhnungsappell an die Bevölkerung. Die "Ära der Verteufelung" müsse enden, sagte der aktuell amtierende US-Präsident in seiner Antrittsrede.

Versöhnung ist ein wichtiges Element der Vergangenheitsbewältigung und Konfliktregelung. In ihrem Namen werden Denkmäler errichtet, für das Bemühen darum werden Preise vergeben. Versöhnung zielt darauf ab, Risse in Konfliktgesellschaften zu glätten.

Nach Bürgerkriegen, Konflikten oder politischen Systemwechseln dient sie dazu, schuldbelastete Vergangenheit aufzuarbeiten. Und sie ermöglicht politisch-gesellschaftliche Integration und Heilung von den psychosozialen Folgen politischer und militärischer Gewalt.

Als Begriff im Sinne der gemeinsamen Konfliktaufarbeitung und Verständigung finde das Wort Versöhnung in Rechtstexten sehr selten Verwendung, sagt Michael Lysander Fremuth, Professor für Grund- und Menschenrechte am Institut für Staats- und Verwaltungsrecht der Uni Wien. Grundsätzlich aber ziele das Recht auf den friedlichen Ausgleich konfligierender Interessen ab.

Rechtlicher Ausgleich

Im Familienrecht kommt der Begriff etwa insoweit vor, als eine Versöhnung der Ehepartner nicht behindert werden soll. Die Zivilprozessordnung ruft dazu auf, "am Beginn der mündlichen Streitverhandlung zunächst eine Versöhnung der Ehegatten anzustreben" und "auf eine Versöhnung hinzuwirken". Das Recht fördert aber auch aktiv Verständigung: So kann in Zivilrechtssachen eine Mediation durchgeführt werden, um eine gerichtliche Auseinandersetzung zu vermeiden.

Das Strafrecht kennt ebenfalls Beispiele für Versöhnung, etwa in Form eines Täter-Opfer-Ausgleichs. Während früher im Strafrecht "der Gedanke der Sühne dominiert" habe, sei es heute "der Gedanke der Prävention, Resozialisierung und Reintegration (durch Strafe und entsprechend flankierende Maßnahmen)", führt Fremuth aus, der auch wissenschaftlicher Direktor des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Grund- und Menschenrechte ist. Dass Straftaten verfolgt und bestraft werden, trage zudem "wohl auch weiterhin zur Herstellung gesellschaftlichen Friedens sowie potenziell zur Versöhnung zwischen Täter und Opfer bei".

Auch Feststellungsurteile ermöglichen Versöhnung: etwa wenn der Verfassungsgerichtshof wie in der Corona-Krise "ausspricht, dass eine Gesetzesverletzung und damit indirekt auch eine Grundrechtsverletzung stattgefunden hat, auch wenn sie nicht mehr andauert und nicht mehr korrigiert werden kann".

Hier erhalten Beschwerdeführerinnen und -führer laut Fremuth nämlich zumindest eine offizielle Bestätigung, dass sie in ihren Rechten verletzt worden sind.

Einer der bedeutendsten juristischen Schritte hierzulande war die Errichtung des Versöhnungsfonds der Republik Österreich nach der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg: Dessen Ziel ist es, "einen Beitrag zu Versöhnung, Frieden und Zusammenarbeit zu leisten". Später wurden mehr Fonds etabliert, zentral ist heute der Zukunftsfonds der Republik Österreich. Dieser ist im Gedenken an die Opfer des NS-Regimes, zur Bekämpfung jeder Form von Antisemitismus und Rassismus sowie zur Wahrung von Demokratie und Menschenrechten geschaffen worden und soll so zur gesamtgesellschaftlichen Versöhnung beitragen.

Beziehungsarbeit mit Gott

Das internationale Recht wiederum intendiert Versöhnung durch die Pflicht zur friedlichen Streitbeilegung. So verbietet das Völkerrecht die Anwendung von militärischer Gewalt und Interventionen, die mit Zwang verbunden sind. Die Charta der Vereinten Nationen enthält außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen. Und auch die rechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen kann Fremuth zufolge als Mittel der Versöhnung begriffen werden: Hier diene das Recht der Bewältigung und dem Übergang zu einer friedlichen Gesellschaft.

Versöhnungs- und Wahrheitskommissionen wurden in der Geschichte schon zahlreiche gegründet. Sie kamen als Konfliktregelung oder beim Übergang von Diktatur zur Demokratie in Staaten von Chile bis Ruanda zum Einsatz. Zu den bekanntesten zählt jene in Südafrika, die die Verbrechen während der Zeit der Apartheid aufklären und zur Versöhnung beitragen sollte.

Auch Kanada nutzte dieses Instrument, um die Unterdrückung und Auslöschung seiner indigenen Bevölkerung aufzuarbeiten. Es sind allerdings nicht nur Gerichte oder der Staat, die die Rahmenbedingungen für Versöhnungen schaffen.

Reue und Selbstkritik

Für gläubige Menschen schafft die Religion Möglichkeiten. Im Judentum ist man insbesondere am höchsten Feiertag, Jom Kippur, dem Versöhungstag, angehalten, seine Beziehungen in Ordnung zu bringen. Im Christentum ist der Gedanke ein ähnlicher: Ausgangspunkt ist auch hier eine gestörte Beziehung zwischen Gott und den Menschen einerseits sowie zwischen den Menschen untereinander andererseits. Versteht man den Versöhnungsbegriff als einen theologischen, dann meint man "ein Befreiungs- und Heilungsgeschehen", bei dem "diese zerrütteten Verbindungen wiederhergestellt werden". So beschreibt es Regina Polak, Leiterin des Instituts für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Uni Wien.

Diese Versöhnung geht zunächst von Gott aus. Danach kann man damit beginnen, die Beziehungen zu anderen Menschen in Ordnung zu bringen. Das setze allerdings Einsicht voraus, sagt Polak, außerdem die Bereitschaft zu Reue und den Willen, etwas zu ändern. Dann steht die Wiedergutmachung an – und diese erfordere Handeln. Polak sagt, genau das schätze sie an der christlichen Tradition: "Versöhnung gibt es nie ohne Selbstkritik." Nur gebe es keine Kultur, die den Menschen beibringe, Konflikte auszuhalten, Fehler einzugestehen, nicht auf Rache und Zorn zu setzen, sondern auf Maßnahmen, die Konfliksituationen vorbeugen.

Versöhnung entsteht auf persönlicher Ebene, aber eben auch durch gesellschaftliche Strukturen. Die Pandemie ist nicht der alleinige Anlass für Zerwürfnisse. Brüche und Polarisierung bestehen oft schon länger, etwa aus materiellen Gründen, wegen prekärer Arbeitsverhältnisse oder aus dem Gefühl mangelnder Mitbestimmung.

"Da gehen wir nicht aber tief genug in die Ursachenanalyse hinein", sagt Polak. "Wenn zu viel beschädigt worden ist, werden die Menschen grantig. Das kann man jetzt gerade gut beobachten." (Lisa Breit, Anna Giulia Fink, 24.12.2021)