Bei seinem Rücktritt verkündete Ex-Kanzler Kurz, mehr Zeit mit der Familie verbringen zu wollen. Nun soll er einen Job in den USA haben.

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Sebastian Kurz hat also einen neuen Job bei einem Datenanalyse-Unternehmen in Amerika, hört man. Bitte schön: Es sei ihm gegönnt.

Oder auch nicht: Kaum hatte sich die Nachricht an den Weihnachtsfeiertagen verbreitet, ergossen sich Spott und Zweifel über den Ex-Kanzler und Ex-Parteichef der ÖVP. Was solle denn ein Technologiekonzern mit einem Studienabbrecher anfangen? So maulen jene, die zwar ein Studium absolviert, aber keine befriedigende Karriere gemacht haben.

Dahinter liegt ein doppeltes Missverständnis, das mit der mangelnden politischen Bildung zusammenhängt und das von den Medien auch noch gern verstärkt wird. Denn allgemein wird angenommen, dass man von der Materie, mit der man es als Politiker zu tun hat, viel verstehen müsse.

Fachleuten ermöglichen, ihre Arbeit bestmöglich zu tun

Das ist aber nicht so. Die Arbeit des Politikers ist eben nicht, die Arbeit der Fachleute zu erledigen. Die Arbeit des Politikers besteht darin, den Fachleuten zu ermöglichen, ihre Arbeit bestmöglich zu tun. Das erfordert weniger Fachwissen als Urteilskraft in Bezug darauf, was für die jeweilige Gemeinschaft nützlich sein könnte – und den Mut, dieses Urteil entschlossen umzusetzen.

Das zweite Missverständnis besteht darin, dass diese politische Tätigkeit nicht als Berufserfahrung erkannt wird. Eine Gemeinde, ein Bundesland, ein Ministerium oder gar die gesamte Republik zu führen (oder auch: aus der Opposition heraus zu kontrollieren) führt zu einem tiefen Einblick in Entscheidungsmechanismen, zu einem Überblick über nationale und internationale Entwicklungen und bildet das, was man früher "Erfahrungsschatz" genannt hat.

Erfahrungsschatz ist viel Geld wert

Es ist ein Schatz, der viel Geld wert ist. Geld, das internationale Unternehmen gerne zu zahlen bereit sind. Man stellt Ex-Politiker ja nicht ein, weil sie so gute Juristen, Techniker oder Ökonomen wären – man holt sie sich ins Unternehmen, weil sie Erfahrung im Verhandeln haben. Oder auch wegen ihrer Fähigkeit, Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden – womöglich auch Gefahren aus vermeintlich unwesentlichen Entwicklungen frühzeitig zu erkennen.

Und schließlich haben langjährige Politiker eine Menge informeller Kontakte, die beim Beschaffen von Entscheidungsgrundlagen ebenso hilfreich sein können wie bei der Durchsetzung einmal getroffener Entscheidungen.

Das ist gut für die Unternehmen, und es zahlt sich in der Regel für die Ex-Politiker aus – ob sie nun bei Palantir oder Volkswagen, bei Siemens, Novomatic oder sonst wo anheuern. Oder wenn sie gar selbst als Unternehmer tätig werden, wie es der Ex-Finanzminister Hannes Androsch vorgeführt hat.

Österreich zeigt wenig Interesse

Auffallend ist allerdings, wie wenig Interesse das in Österreich auslöst – einmal abgesehen von dem Neid, der angesichts der Gagen entsteht, die in der Wirtschaft durchwegs höher sind als in der Politik. Fällt jemandem auf, dass das politische Wissen und Geschick der Ex-Politiker sinnvollerweise in einem oder mehreren Thinktanks von Elder Statesmen genutzt werden könnten?

Eine Handvoll Ex-Politiker – wiederum fallen einem Androsch, aber auch Erhard Busek und Franz Vranitzky ein – bringen sich gelegentlich selbst (und weitgehend selbstlos) ein. Auf den Rest verzichtet die Republik. Die Betreffenden werden es verschmerzen. Frustrationstoleranz gehört nämlich auch zu den unterschätzten Politikertugenden. (Conrad Seidl, 26.12.2021)