Ausnahmezustand in Heimen: Pflegepersonal arbeitet permanent am Limit, die Beschwerden häufen sich.

Foto: Heribert Corn

Es war eine Hiobsbotschaft für die ganze Familie. Von einem Tag auf den anderen hatte die angestammte Betreuerin den halbseitig gelähmten Vater sitzengelassen, ohne Ersatz. Eilig begann die Tochter herumzutelefonieren, um im Raum Villach eine mobile Pflegerin für drei Besuche am Tag aufzutreiben – vergeblich: "Ich bekam auch noch eine Schnauze angehängt."

Ob sie denn keine Zeitung lese, habe sie die Ansprechpartnerin einer großen Hilfsorganisation angeblafft, wegen allseits bekannten Personalmangels sei frühestens in einem Monat etwas zu machen. Ein zweiter Anbieter nannte eine noch längere Wartefrist, auch ein dritter winkte ab. Erst über Beziehungen zu einem Politiker hatte die Kärntnerin Erfolg. So sollte das nicht laufen, sagt sie, "aber wir haben uns nicht anders zu helfen gewusst".

Binnen zehn Jahren braucht Österreich um bis zu 100.000 Pflegekräfte mehr, warnen Prognosen, ein Sozialminister nach dem anderen hat Abhilfe versprochen. Doch während die angekündigte Reform kaum über das Stadium des Papiertigers hinausgekommen ist, stehen manche Bürger bereits an. Ist der Pflegenotstand längst Realität?

Abgewiesene Klienten

Wer sich umhört, stößt immer wieder auf einschlägige Erfahrungsberichte – auch vonseiten der Anbieter. In Teilen Kärntens und Oberösterreichs etwa könnten nicht mehr alle Anfragen nach mobiler Pflege erfüllt werden, heißt es aus der Diakonie. Ähnlich die Lage in Salzburg: Seit Monaten nähmen Anrufe von Menschen zu, die bei anderen Trägern abgewiesen wurden. Aber leider müsse man selbst immer wieder mangels Personals absagen.

Mit den offiziellen Auskünften decken sich diese Erzählungen allerdings nur bedingt. Auf Anfrage des STANDARD räumen lediglich zwei Bundesländer – Salzburg und Niederösterreich – dezidiert ein, dass die Nachfrage das Angebot der mit Steuergeld geförderten, aber von Trägerorganisationen angebotenen mobilen Pflege mancherorts übersteige. Die Steiermark berichtet weniger konkret von Personalbedarf, der Rest konstatiert: Trotz schwieriger Lage erhalte derzeit jeder eine Leistung, der eine brauche.

Dass Bedürftige durch die Finger schauten, komme nicht vor, heißt es etwa aus dem Büro der Kärntner Soziallandesrätin Beate Prettner (SPÖ). Und der eingangs geschilderte Fall aus Villach? Es könne sein, dass einzelne Anbieter Engpässe hätten, genau deshalb habe das Land die zentrale Servicestelle GPS eingerichtet: Wer dort anfrage, bekomme garantiert Pflege angeboten.

Immer mehr Beschwerden

Bei Bettina Irrasch langen dennoch Klagen ein. Zwei- bis dreimal pro Monat meldeten sich Menschen, die nicht rechtzeitig Pflege für die eigenen vier Wände finden könnten, erzählt die offiziell eingesetzte weisungsfreie Kärntner Pflegeanwältin. Vermutlich gebe es noch mehr Betroffene: "Viele wissen wohl nicht, dass es mich gibt."

Für mehr Protest sorge aber die Lage in Heimen. Von 2019 bis 2020 seien die Beschwerden um 40 Prozent angewachsen, berichtet die Ombudsfrau. Auslöser seien nicht nur die strengen Besuchsregeln wegen Corona, sondern auch Qualitätsmängel. Bewohner fühlten sich zunehmend abgefertigt, sagt Irrasch: "Sie werden früher ins Bett geschickt, seltener geduscht. Auf Beschwerden wird weniger eingegangen, Beziehungsarbeit bleibt auf der Strecke."

System hängt am Tropf: "In manchen Regionen findet Pflege nur mehr in einer Form statt, dass sie gerade noch nicht gefährlich ist", sagt die steirische Pflegeanwältin Michaela Wlattnig.
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Als "Warm-satt-sauber-Pflege" bezeichnet Irraschs steirische Kollegin Michaela Wlattnig derartige Zustände in einem offenen Brief, den sie im Oktober im Namen aller Pfleganwältinnen und -anwälte an Gesundheitsminister Wolfgang Mückstein (Grüne) geschickt hat. Der Pflegepersonalnotstand erstrecke sich "über alle Settings", ist da zu lesen, eine "Negativspirale" sei im Gang. Weil Pflegebedürftige und deren Angehörige ohne passende Versorgung "im Stich gelassen" würden, landeten viele gegen ihren eigentlichen Wunsch in Heimen – und sorgten dort für Überlastung.

Steter Ausnahmezustand

"In manchen Regionen findet Pflege nur mehr so statt, dass sie gerade noch nicht gefährlich ist", sagt Wlattnig und zählt ihr eigenes Land zu den Problemgebieten. Um 300 Prozent seien die Beschwerden seit Frühsommer 2020 angestiegen – die Corona-bedingte Überlastung habe verschärft, was sich davor angebahnt hatte. "Das Personal ist im permanenten Ausnahmezustand", berichtet die Pflegeanwältin und kritisiert die Erlaubnis des Landes, den per Personalschlüssel festgelegten Mindeststandard – Zahl der Patienten je Pflegekraft – fallweise um zehn Prozent zu unterschreiten.

Ein Qualitätsgefälle zwischen öffentlich und privat betriebenen Institutionen erkenne sie aber nicht. Ob ein Heim noch genügend Personal finde, hänge vom Bemühen um gute Bedingungen ab – vom Mitspracherecht bis zu flexiblen Dienstzeiten.

Zu verschieden sind die Strukturen, um ganz Österreich über einen Kamm zu scheren. Länder und Gemeinde betreiben ebenso Heime wie gemeinnützige und profitorientierte Anbieter. Große Player, die sich Qualitätsbeauftragte leisten könnten, seien ein Vorteil, glaubt Niederösterreichs Patientenanwalt Gerald Bachinger. Er registriert im Land keine Explosion von Beschwerden: Schlagzeilenträchtige Heimskandale stuft Bachinger als einzelne Fälle von Missmanagement, nicht aber als symptomatisch ein.

Corona sorgt für Ausfälle

Ähnlich die Auskunft aus Wien. Die Personalsituation sei angespannt, wozu auch Ausfälle durch die Corona-Krise beigetragen hätten, sagt Pflege- und Patientenanwältin Sigrid Pilz: "Es ist schwer zu verstehen, aber in manchen Häusern sind 30 Prozent des Personals ungeimpft." Doch trotz Schwierigkeiten finde man in der Stadt, die laut Rechnungshofkritik den großzügigsten Personalschlüssel hat, sowohl in den Heimen als auch bei den mobilen Diensten noch das Auslangen.

Corona sorgt für Ausfälle unter den Pflegekräften: "Es ist schwer zu verstehen, aber in manchen Häusern sind 30 Prozent des Personals ungeimpft", sagt die Wiener Pflegeanwältin Sigrid Pilz.
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Pilz führt dies sehr wohl auf die starke öffentliche Hand zurück. Andere Länder setzten auf profitorientierte Betreiber, die wesentlich weniger Personal mit resultierenden Qualitätsproblemen beschäftigten. In Wien hingegen regiere insbesondere in kommunalen Einrichtungen nicht vorrangig die Kostenminimierung: "Die sozialdemokratische Fürsorgekultur für die Schwächsten macht sich da bezahlt."

Gemeinsam mit dem Burgenland ist Wien auch das einzige Land, in dem nach offizieller Auskunft definitiv keine Heimbetten wegen Personalmangels leerstehen. Makaberer Effekt, der bundesweit gilt: Die vielen Corona-Toten in Pflegeeinrichtungen im Vorjahr haben die Situation vorübergehend entschärft.

Eine Reform als Skandal

Fünf Länder melden Leerstand wegen fehlender Pflegekräfte. In Oberösterreich betrifft das 600 von 12.650 Betten, in Salzburg 123 von 5142, in Kärnten 53 von 5851, in Vorarlberg 95 von 2414 – hier hat sich die Wartezeit mittlerweile auf sieben Wochen verlängert. In Niederösterreich stehen 240 von 10.484 Betten leer, doch das liege nicht ausschließlich an Personalmangel, sondern etwa auch an Umbauten. Tirol hat keine Daten parat.

Die meisten Plätze, nämlich 1860 von rund 14.000, sind in der Steiermark unbelegt. Dies könne aber genauso gut an fehlender Nachfrage oder Sanierungen liegen, heißt es aus der Landesregierung. Über die Gründe müssten die Betreiber keine Meldung ablegen.

Um mehr Kräfte zu finden, braucht es wohl nicht nur üppigeren Lohn, sondern auch höhere Personalstände – sonst wird der Arbeitsdruck Pflegerinnen und Pfleger weiterhin zermürben. Massive Investitionen fordert die Kritikerin Wlattnig: "Es ist ein Skandal, dass die Pflegereform seit einem Jahr stockt." (Gerald John, 27.12.2021)