Im vergangenen Juni hat Mathias Cormann sein Amt als Generalsekretär der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) mit Sitz in Paris angetreten. Davor war der gebürtige Belgier der längstdienende Finanzminister in der Geschichte Australiens, wohin er 1996 auswanderte. Er möchte als Vermittler dazu beitragen, die klassischen OECD-Länder in Europa sowie die USA und Kanada besser mit dem asiatisch-pazifischen Raum zu verbinden, insbesondere bei Klimaschutz und global gerechteren Steuern. Österreich sieht er als prosperierendes Land, das noch viel mehr für Beschäftigung tun müsse.

STANDARD: Ihre Karriere klingt nach Hollywood. Ein junger Belgier wandert 1996 im Alter von 25 Jahren nach Westaustralien aus, erster Job als Gärtner, wird Senator, 2013 Finanzminister. 25 Jahre später kehren Sie als Generalsekretär der OECD nach Europa zurück. Wieso haben 37 Mitgliedsländer sich für Sie entschieden?

Cormann: Die Geschichte war Teil meiner Bewerbung. Ich hatte von allen Kandidaten wahrscheinlich die meiste ökonomische und fiskalpolitische Erfahrung. Und natürlich habe ich die Perspektive, dass ich in Europa geboren bin, aber eine Karriere in Australien und quer über den asiatisch-pazifischen Raum gemacht habe.

STANDARD: Die OECD hatte damals 37 Mitgliedsländer, 26 davon sind in Europa.

Cormann: Heute sind es 38 Staaten, Costa Rica ist inzwischen beigetreten. Und von den 26 europäischen Ländern sind 22 Mitglied der Europäischen Union. Nominiert wurde ich von Australien. Meine wichtigste Aufgabe ist es, eine gut funktionierende multilaterale Zusammenarbeit zu stärken. In der OECD sind wir Gleichgesinnte in Bezug auf Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, die Prinzipien der Marktwirtschaft, freien Handel. Das ist unsere Basis. Die Welt von heute steht vor vielfachen Herausforderungen, die nur durch Zusammenarbeit der Staaten gelöst werden können. Als OECD haben wir da bessere Chancen, Lösungen zusammen zu entwickeln, weil wir gleichgesinnte Länder sind. Es gibt viele Themen und eine Diversität von Perspektiven, aber doch eine breite Übereinstimmung bei den Grundsätzen. Ich sehe meinen Job als Vermittler zwischen den Ländern, aber auch als Vermittler im Auftrag und zugunsten der OECD-Mitgliedsstaaten mit dem Rest der Welt.

STANDARD: Inwieweit muss die OECD sich dabei selbst verändern? Bei Ihrem Auftritt in Wien vor einer Woche hat Außenminister Alexander Schallenberg gesagt, man müsse sich darüber im Klaren sein, dass die Demokratien in der Welt eine Minderheit seien. Wie sehen Sie das?

Cormann: Die individuelle Freiheit zu bewahren, die Marktwirtschaft, die Grundrechte zu vertreten, das bedeutet auch, eine höhere Lebensqualität für die Menschen zu bewahren. Es reicht nicht, das nur zu verkünden. Wir müssen es immer wieder beweisen, vor den Bürgern wie auch dem Rest der Welt. Werte sind das eine, diese im praktischen Leben umzusetzen ist das andere. Die OECD ist eine Plattform, auf der Länder voneinander lernen können. Wir können Staaten helfen, die Dinge besser zu machen. Wir müssen nachweisen, dass die Demokratie funktioniert, bessere Ergebnisse im Leben der Menschen bringt.

"Meine wichtigste Aufgabe ist es, eine gut funktionierende multilaterale Zusammenarbeit zu stärken", sagt Mathias Cormann.
STANDARD / Christian Fischer

STANDARD: Vor 100 Jahren haben die Europäer und die USA die Welt dominiert. Das ist vorbei. Worauf kommt es in Zukunft an, was kann Europa noch bewirken?

Cormann: Das ist nur teilweise wahr. Es gibt natürlich verschiedene Regierungssysteme auch in einigen vergleichbar großen und einflussreichen Ländern, aber ich glaube doch, dass unser demokratisches System sich bewährt hat. Über die politischen Systemunterschiede hinweg müssen wir danach trachten, dass es ein globales Level-Playing-Field gibt, globale Chancengleichheit für die Menschen und die Wirtschaft gibt. Dafür muss man pragmatische Lösungen finden, über alle politischen Systeme hinweg.

STANDARD: Sie haben die OECD einmal als großen Thinktank beschrieben. Sie müssen mit Ideen und Konzepten überzeugen, nicht mit Waffen. Ist das so zu sehen?

Cormann: Nein, wir haben schon unsere bewährten Methoden. Wir bilden die Länder weltweit ab mit vergleichbaren Daten, machen regelmäßig unsere Berichte und vergleichen die Wettbewerbsfähigkeit in vielen unterschiedlichen Politikbereichen. Länder streben danach, möglichst nahe an der Spitze bei den Leistungsfähigen sein. Unsere vergleichende Daten- und Politikanalyse an sich ist also ein Motor für bessere Politiken. Wir geben auch Ratschläge zu Best-Practice-Modellen. Und wir bieten eine wirksame Plattform für die internationale Zusammenarbeit an, nicht nur für die Mitglieder.

STANDARD: Nehmen wir ein konkretes Beispiel, globale Steuern, da geht es seit Jahren nur mühsam voran.

Cormann: Wir haben einen Rahmen für eine internationale Steuerreform geschaffen. Mehr als 140 Länder haben sich an einen Tisch gesetzt, 137 Staaten haben sich auf einen Deal geeinigt, inklusive aller G20-Nationen. Nicht alle unsere 38 Mitglieder sind bei den G20-Staaten dabei, aber wir haben mit Russland, China, Indien, Brasilien, Südafrika und vielen anderen großen Ländern der Welt eine Kohärenz schaffen können. Wir schaffen auch diverse Standards in der Welt, ob es um Chemieproduktion geht oder um künstliche Intelligenz. Die besten Experten kommen bei uns zusammen. Durch die Kraft hochqualitativer Arbeit kann man in der Welt viel Einfluss nehmen. Das geht weit über unsere numerale Macht hinaus, wie sie sich in der Wirtschaftskraft ausdrückt.

STANDARD: Wie hoch ist die Chance, dass die vereinbarten Mindeststeuern für Unternehmen auch tatsächlich kommen?

Cormann: Sie werden kommen. Das Schwierige war, die Einigung zu erzielen. Jetzt muss es umgesetzt werden. Alle Mitgliedssländer der OECD, alle EU-Staaten, alle G20-Staaten werden das Steuerpaket bis 2023 umsetzen. Es fußt auf zwei Säulen. Die eine betrifft das Steuerrecht der 100 multinationalen Konzerne, inklusive der Digitalkonzerne. Sie werden verpflichtet, einen fairen Anteil an Steuern auch in den Märkten zu entrichten, in denen sie ihre Gewinne erwirtschaften. Es gibt das Problem, dass viele Konzerne sich eine Struktur gegeben haben, die dazu führt, dass sie sehr wenige oder gar keine Steuern zahlen. Dieses Problem wird durch unsere Reform gelöst. Es wird neu zugewiesene Steuerrechte geben und auch eine globale Mindeststeuer von 15 Prozent.

STANDARD: Bis wann wird das realistisch gesehen umgesetzt werden?

Cormann: Die Frist zur Umsetzung ist das Jahr 2023. Wir haben die legistischen Arbeiten für dieses Modell abgeschlossen. Die Europäische Union hat schon begonnen, das in eine Direktive umsetzen. Kein Land kann Interesse daran haben, dass es nicht daran teilnimmt. Denn es gibt genug kritische Masse an Ländern, die diese Mindeststeuer von 15 Prozent umsetzen. Wenn ein Land nicht mitmacht, dann werden die Steuern bis zu 15 Prozent anderswo ja immer noch erhoben.

STANDARD: Welche Länder werden vom Start weg dabei sein?

Cormann: Ich erwarte, dass alle G20-Staaten dabei sein werden, inklusive China. Sie repräsentieren 80 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung.

STANDARD: Ein wichtiges Projekt für die EU ist die CO2-Ausgleichsabgabe an den EU-Außengrenzen. Damit soll ein Teil des EU-Budgets, der Wiederaufbauplan, finanziert werden. Wie realistisch ist das?

Cormann: Gehen wir einen Schritt zurück. Der Carbon-Border-Adjustment-Mechanismus ist eine Maßnahme, die ein spezielles Risiko ausschalten soll. Die Herausforderung besteht darin sicherzustellen, dass der Ehrgeiz und die Anstrengungen in den einzelnen Ländern und Regionen, wie der EU, auf das erforderliche Niveau angehoben werden können, während gleichzeitig das globale Level-Playing-Field beschützt wird, indem kontraproduktive Wettbewerbsspannungen, Handelsverzerrungen und CO2-Verlagerungen vermieden werden. Mehr Anstrengung zum Schutz des Klimas soll nicht dazu führen, dass Teile der Industrie in andere Teile der Welt ausgelagert werden, wo bei gleicher Wirtschaftsleistung die Emissionen höher wären. Der Mechanismus ist eine Möglichkeit, es über Abgaben auf Importe zu lösen. In einem idealen Szenario würden sich alle Länder zum einer fairen Lastenverteilung bereiterklären. Das hieße, global eine kohärentere, koordinierte Bepreisung der Emissionen herbeizuführen. Europa wird CBAM weiter vorantreiben. Das wird den Druck auf die internationale Gemeinschaft erhöhen, einen kohärenteren Zugang zu finden. Die OECD kann dabei helfen, so wie bei der internationalen Mindeststeuer.

"Alle Mitgliedsländer der OECD, alle EU-Staaten, alle G20-Staaten werden das Steuerpaket bis 2023 umsetzen", ist Mathias Cormann überzeugt.
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STANDARD: Zum globalen politischen Powerplay: Welche Chancen hat Europa überhaupt, gegen die Supermächte USA und China mit seinem Wohlstandsmodell zu bestehen? Wer gewinnt?

Cormann: So stellt sich mir die Frage nicht. Wir stellen uns die Aufgabe, wie wir die internationale Zusammenarbeit so gut wie möglich vermitteln können, um die wachsenden Herausforderungen unserer Zeit besser zu bewältigen. Zwischen all den verschiedenen Interessen und Positionen gilt es, gute Lösungen zu finden. Am Ende leben wir alle auf demselben Planeten, wir müssen pragmatische Lösungen finden.

STANDARD: Was können die Europäer dazu beitragen?

Cormann: Europa muss weiter mit gleichgesinnten Ländern zusammenarbeiten und sein Engagement weiter verstärken. Die OECD ist da eine Schlüsselplattform, wenn es um Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik geht. Es ist eine Frage der Zusammenarbeit und wie man mit anderen Ländern in der Welt am besten kooperiert, auf der Basis von Werten und um Fortschritte zu machen, die diese Werte widerspiegeln.

STANDARD: Sie arbeiten seit Juni wieder in Europa, in Paris, inwieweit hat sich Ihre Sicht auf Europa durch Ihre Erfahrungen in Australien, im asiatisch-pazifischen Raum verändert?

Cormann: Als ich in meinem zweiten Jahr an der Universität in Namur war, gab es im Juni 1989 die Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Tian'anmen-Platz in Peking, im November darauf fiel die Berliner Mauer. Mitte der 1990er, als ich nach Australien ging, waren die zentral- und osteuropäischen Staaten noch in der ersten Phase des Anpassungsprozesses. Wenn ich jetzt nach all diesen Jahren zurückkomme und heute Slowenien, Polen, die Slowakei, die Tschechei, die baltischen Länder oder Ungarn besuche und den erstaunlichen wirtschaftlichen Fortschritt sehe, diesen Sprung nach vorne, den diese Länder gemacht haben, dann ist das doch wirklich wunderbar, wie sie die freie Marktwirtschaft und die Demokratie zum Wohle der Menschen in ihren Ländern umgesetzt haben. Als ich als Kind in Ostbelgien aufgewachsen bin, waren alle diese Länder weit, weit weg, auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs. Wenn man heute nach Europa zurückkommt, sieht man es nicht nur vereinigt, Marktwirtschaft und Demokratie sind etabliert. Das ist schon sehr beeindruckend.

STANDARD: Im Moment wird in der EU vor allem die Sorge über den Rückschlag der Demokratie in Ungarn und Polen diskutiert. Die Kommission bringt ständig Klagen wegen Verstößen gegen die Rechtsstaatlichkeit ein. Macht Ihnen das keine Sorgen?

Cormann: Ich will mich in solche politischen Debatten zwischen Mitgliedsstaaten nicht einmischen. Wir sind oft natürlicherweise auf das fixiert, was verbessert werden muss, was nicht ausreichend ist. Aber nach 27 Jahren außerhalb Europas sehe ich einen unglaublichen Fortschritt. Und innerhalb Europas werden Meinungsverschiedenheiten demokratisch und rechtsstaatlich gelöst. Aber wir sollten niemals vergessen, dass Europa grundsätzlich ein großartiger Erfolg ist.

STANDARD: Aber es nagt doch an der Glaubwürdigkeit der Europäer in der Welt, wenn Rechtsstaatlichkeit nicht von allen Staaten eingehalten wird, oder?

Cormann: Europa hat sehr große Glaubwürdigkeit und Einfluss. Europa hat einen sehr großen Binnenmarkt mit großen individuellen Industrienationen und eine echte ökonomische Breite. Das ist auch der Grund, warum Europa in der Klimapolitik einen besonderen globalen Einfluss hat. Das Gleiche galt bei europäischen Entscheidungen, wenn es um die Besteuerung von digitalen Dienstleistungen ging. Mit ökonomischer Kraft kommt auch politischer Einfluss.

STANDARD: Kommen wir zu Österreich, Sie haben den jüngsten OECD-Bericht präsentiert. Die Hauptbotschaft war, dass die Corona-Krise mit den staatlichen Wirtschaftshilfen ganz gut bewältigt wurde, es aber mittelfristig ein Budgetproblem in vielen Bereichen und großen Reformbedarf gibt, der schon vor der Krise da war. Was ist das Wichtigste daran?

Cormann: Das ist eine gute Zusammenfassung. Das Pro-Kopf-Einkommen in Österreich war schon vor der Krise sehr hoch, die Produktivität der Wirtschaft ist auf hohem Niveau. Aber am Horizont tauchen bereits einige alarmierende Zeichen auf, was angegangen werden müsste. Die Überalterung der Gesellschaft ist ein gutes Beispiel dafür.

STANDARD: Inwiefern?

Cormann: Wir werden älter, leben länger, das ist erfreulich, aber es hat natürlich Auswirkungen. Zum einen belastet es das Wachstum, weil der Anteil der aktiv arbeitenden Bevölkerung geringer wird. Gleichzeitig steigen die Ausgaben für Soziales und Gesundheit. Dafür muss man schon heute eine Lösung finden. Manches ist mehr als offensichtlich. Österreich hat einen unglaublich niedrigen Anteil von Frauen bei der Beschäftigung gemessen an OECD-Standards, nur 50 Prozent bei Vollzeitarbeit.

STANDARD: Also sollten die Menschen nicht nur länger arbeiten, sondern vor allem auch Frauen in Beschäftigung kommen, um die Lücken zu schließen?

Cormann: Man muss den vorhandenen, internen Pool an Arbeitskräften besser nutzen. Die Menschen müssen länger in Beschäftigung bleiben, der Anteil der Frauen sollte angehoben werden. Aber das allein wird nicht reichen, man wird auch Menschen von außen holen müssen, und das bedeutet mehr Einwanderung. Die Antwort auf die Überalterung wird also eine Kombination von allen drei Maßnahmen sein müssen. Je weniger Menschen in Österreich beschäftigt werden können, desto mehr wird man von außen nach Österreich holen müssen. Es gibt da keine Wunderlösung.

STANDARD: Aber so, wie Sie das beschreiben, ist das machbar. Die Älteren sind immer gesünder, Frauen immer besser ausgebildet. Und Österreich ist ein Einwanderungsland. Es gäbe also genug Chancen.

Cormann: Sicherlich, dem kann ich zu 100 Prozent zustimmen. Das Problem ist lösbar. Es gibt eine Menge Möglichkeiten und Chancen mit Luft nach oben. Da ist eine Kluft zu anderen Ländern, Österreich hat Aufholbedarf.

STANDARD: Österreich ist neben Deutschland und Schweden das beliebteste Land für Zuwanderung. Das wird von vielen negativ gesehen, aber ist es nicht eigentlich ein positives Zeichen für ein prosperierendes Land?

Cormann: Es ist sehr menschlich, dass die Leute bessere Lebensbedingungen suchen. Das trifft auf Österreich, Deutschland oder auch Australien zu. Am Ende muss ein souveränes Land selbst beurteilen, welche Bedürfnisse es hat, welche Fähigkeiten von außen gebraucht werden und was man im Land von innen her entwickeln kann, etwa durch Ausbildung und Training.

"Österreich hat einen unglaublich niedrigen Anteil von Frauen bei der Beschäftigung gemessen an OECD-Standards, nur 50 Prozent bei Vollzeitarbeit", kritisiert Mathias Cormann.
STANDARD / Christian Fischer

STANDARD: Ist Wachstum der Bevölkerung auch ein Zeichen für Wohlstand? Vor 30 Jahren hatte Österreich sieben Millionen Einwohner, heute sind es fast neun.

Cormann: Als ich nach Australien auswanderte, gab es 17 Millionen Einwohner. Heute sind es 25,5 Millionen. In Australien macht die Einwanderung einen bedeutenden Anteil am wirtschaftlichen Wachstum aus.

STANDARD: Warum sind die Leute dann so skeptisch bei Einwanderung?

Cormann: Wenn man den Bürgern erklären kann, wo es Luft nach oben gibt und warum man bestimmten Menschen mit bestimmten Fähigkeiten attraktive Angebote machen sollte, dann kriegt man dafür auch öffentliche Unterstützung. Die Skepsis kommt dann auf, wenn die Leute das Gefühl haben, dass die Regierung den Migrationsfluss nicht mehr unter Kontrolle hat, wenn das nicht gut gemanagt wird.

STANDARD: 2015 war das der Fall. Australien war bekannt dafür, sehr hart gegen Migranten vorzugehen. Sehen Sie das anders, Sie waren damals Finanzminister?

Cormann: Ich glaube eher, man sieht das inzwischen in Europa anders. Wir hatten in Australien eine Situation, dass Menschen ihr Leben in die Hände von Menschenschmugglern und Schleppern legten. Sie kamen in undichten Booten über das Meer. Viele sind ertrunken. Unser Ziel war, das Schlepperwesen als Geschäftsmodell zu zerstören. Als souveränes Land müssen Sie kontrollieren können, wer ins Land kommt oder nicht, und die Umstände, unter denen sie kommen können.

STANDARD: Da hat sich in EU-Ländern zuletzt tatsächlich etwas geändert, es geht bei den Regierungen heute viel um den Schutz der EU-Außengrenzen. Dient Australien als Vorbild?

Cormann: Das australische Modell sieht eines der großzügigsten Flüchtlingsprogramme weltweit vor. Pro Kopf der Bevölkerung ist die Zahl der Flüchtlinge, die ins Land gebracht werden, nur in Kanada höher. Wir machen eine gezielte Einwanderungspolitik, die wirtschaftlich auch nötig ist. Sorgen bereitet den Bürgern die illegale Migration. Die Frage, wie man sicherstellt, dass Menschen geordnet ins Land kommen, das ist immer die Schlüsselfrage.

STANDARD: Was sollte die Europäische Union da anders machen?

Cormann: Ich bin mir sicher, dass es EU-weit eine besondere Achtsamkeit dafür gibt, dass man die Außengrenze schützen muss, wenn man den offenen Schengenraum bewahren will.

STANDARD: Und wie schätzen Sie die Risiken der Inflation ein, mit steigenden Zinsen und der Notwendigkeit für die Regierung, mehr Budgetdisziplin zu üben?

Cormann: Ich habe das bei meinem Auftritt in Wien betont, es war insgesamt völlig richtig und notwendig, die Wirtschaft mit starken fiskalischen Maßnahmen zu unterstützen. Je mehr die gesundheitliche und auch die wirtschaftliche Lage unter Kontrolle ist, desto mehr muss das Ausmaß der staatlichen Hilfen angepasst und reduziert werden. Es braucht mittelfristig einen Plan, wie der Haushalt wieder ausgeglichen wird und die Schulden wieder reduziert werden. (Thomas Mayer, 28.12.2021)