Der Zugang zu Vorabdrucken blieb einst vielen Forschern verwehrt. Heute gibt es riesige Preprint-Archive online.

Foto: EPA / Csille Cseke

Wie wichtig der niederschwellige und schnelle Austausch von wissenschaftlichen Ergebnissen ist, hat zuletzt die Corona-Forschung auf eindrückliche Weise gezeigt: Der Upload von Preprints, also von noch unveröffentlichten wissenschaftlichen Studien, auf frei zugänglichen Servern ermöglicht es Fachkollegen, neueste Ergebnisse zeitnah einzusehen. Sie können damit arbeiten, lange bevor der oft Monate dauernde Prozess aus Review, Überarbeitung und letztlich Publikation in einem Fachjournal abgeschlossen ist. Auch interessierten Laien ermöglichen Preprint-Server den freien Zugang zu wissenschaftlichen Fachartikeln.

Pionierarbeit beim schnellen und freien Zugang zu Vorabdrucken leistete vor 30 Jahren der US-Physiker Paul Ginsparg. 1991 gründete er mit arXiv.org den ersten Preprint-Server. Rund zwei Millionen Arbeiten von etwa vier Millionen registrierten Nutzern umfasst der Server heute – die meisten aus den Bereichen Physik, Mathematik und Informatik. Pro Stunde greifen 300.000 Forscher auf den Server zu, die Nutzung ist kostenlos.

Nach diesem Vorbild entstanden später auch Preprint-Server für andere Fachgebiete, etwa medRxiv, der in der Corona-Pandemie große Bedeutung gewann und den Austausch von Covid-Erkenntnissen beschleunigt. Der an der New Yorker Cornell-Universität tätige Ginsparg wurde für seine wegweisenden Beiträge zum offenen Preprint-Zugang kürzlich von der Berliner Einstein-Stiftung mit dem erstmals vergebenen Einstein-Award ausgezeichnet, der mit 200.000 Euro dotiert ist.

STANDARD: Vor 30 Jahren stellten Sie mit arXiv.org den ersten Preprint-Server online. Was war Ihre Motivation für das Projekt?

Ginsparg: Es war keine visionäre Eingebung oder eine Revolution, sondern eher ein evolutionärer Prozess. Die Physik-Community nutzte ja schon lange Preprints, aber der Zugang dazu war sehr unfair, ohne dass jemand das so beabsichtigt hätte. Es gab privilegierte Kommunikationsschleifen. Wenn man so wie ich in den 1980er-Jahren Fakultätsmitglied in Harvard war, hatte man Zugang zu einem großen Informationsnetzwerk, wir bekamen noch unveröffentlichte Arbeiten von allen, die wir kannten. Die gaben wir dann untereinander weiter. Für Leute anderswo oder am Anfang ihrer Karriere war es extrem schwierig, zeitnah an die neuesten wissenschaftlichen Ergebnisse zu kommen.

Paul Ginsparg wurde mit dem ersten Einstein-Award ausgezeichnet.
Foto: Cornell University

STANDARD: Sie wollten diese Kommunikationsschleifen aufbrechen?

Ginsparg: Ich wollte das ursprünglich nur für ein winziges Teilgebiet der theoretischen Physik machen, das zu Matrix-Modellen in der Stringtheorie arbeitet. Ich rechnete zunächst mit einer Einreichung alle drei Tage. Aber als ich den Server startete, bekam ich eine Einreichung am ersten Tag, zwei am nächsten Tag, und zu meiner großen Überraschung gab es überhaupt keinen Tag ohne neue Einreichung. Nach sechs Monaten hatte ich 400 Vorabdrucke. Inzwischen stehen wir bei 200.000 Preprints pro Jahr. Das System verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der Wissenschaftscommunity.

STANDARD: Die großen Wissenschaftsverlage verdienen viel Geld mit wissenschaftlichen Publikationen – es ist üblich, dass sie sowohl von den Autoren als auch von den Lesern bezahlt werden. Wie ist das Verhältnis von arXiv zu den Verlagsriesen?

Ginsparg: Dass arXiv nicht von Anfang an Probleme mit den großen Verlagen hatte, hat damit zu tun, dass wir schneller im World Wide Web gestartet sind. Wir waren online, bevor irgendwelche Verlage das Internet nutzten. Als die Verlage dann online aktiv wurden, hatten sie keine rechtlichen Möglichkeiten, gegen uns vorzugehen: Da wir die Vorabdrucke von den Autoren bekommen, bevor sie den Verlagen das Copyright übertragen, verstoßen wir nicht gegen die Gesetze.

STANDARD: Plattformen wie die Schattenbibliothek Sci-Hub machen bereits veröffentlichte Aufsätze zugänglich und verstoßen damit gegen das Urheberrecht. Auch hier ist das Ziel, wissenschaftliche Publikationen frei zugänglich zu machen. Was halten Sie davon?

Ginsparg: Was Sci-Hub tut, mag sehr idealistisch sein, aber ich würde mich nicht in so eine rechtliche Gefahr begeben wollen. Ich lehne das auch ab, weil es meiner Meinung nach die falsche Mentalität ist. Ja, es ist obszön, was die großen Verlage verdienen. Aber anstatt die Gesetze zu brechen, sollte man versuchen, das System zu ändern. Genau das tun wir, indem wir die Preprints legal bekommen und frei zugänglich machen, bevor sie an die Verlage gehen. Wir leben also in friedlicher Koexistenz mit den Wissenschaftsverlagen.

STANDARD: Wie soll es mit arXiv weitergehen, was werden die nächsten 30 Jahre bringen?

Ginsparg: Sie meinen, wenn ich Mitte 90 bin? Meine Vorhersage ist, dass ich dann nicht mehr aktiv daran arbeiten werde. Manchmal fühlt es sich so an, als ob das arXiv jemand ist, den ich aufgezogen habe, wie ein Kind, das einmal groß und selbstständig werden soll. Aber leider, das arXiv ist immer wieder zu mir zurückgekehrt und schläft noch mit 3o Jahren in meinem Wohnzimmer. Ich arbeite immer weiter daran, aber ich denke auch, wenn es den Absprung von mir nicht irgendwann schafft, war es kein wirklicher Erfolg.

STANDARD: Wohin soll sich arXiv entwickeln, damit Sie zufrieden wären?

Ginsparg: Wir haben heute getrennte Einheiten nebeneinander: arXiv, BioRxiv, MedRxiv. Es bräuchte aber ein ausgefeilteres übergeordnetes System, das den Austausch zwischen den Wissenschaftsgebieten stärker befruchtet. Hier könnten auch Automatisierung und linguistische Datenverarbeitung viel stärker eingesetzt werden, um die Kommunikation über die wissenschaftlichen Fachgrenzen hinweg zu vereinfachen. (David Rennert, 4.1.2022)