Drei Laib des subventionierten Weißbrotes und zwei Sesamkringel – viele Türken können sich derzeit kaum mehr zum Essen leisten.

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Am Dienstagmorgen sind die Schlangen an den kommunalen Ständen für Brotverkäufe im Istanbuler Stadtteil Üsküdar genauso lang wie schon seit Wochen. Der zynischen Aufforderung der Filmschauspielerin und High-Society-Dame Hülya Avsar, "Wer kein Geld hat, soll halt Simit essen", wird hier notgedrungen gefolgt. In der Mehrzahl sind es Pensionisten, die hier in der Schlange stehen, um sich jeweils drei Laib des subventionierten Weißbrotes und eben zwei Simit (Sesamkringel) abzuholen, um an dem Tag über die Runden zu kommen.

"Wir essen nur noch Brot, Zwiebeln und Linsen", erzählt ein älterer Mann in der Schlange, "etwas anderes können wir uns nicht mehr leisten." Vor allem eben Pensionisten, die durch die Inflation die Hälfte ihres sowieso schon schmalen Geldbeutels verloren haben, und Großfamilien in den Armenvierteln der Städte, die oft nur ein oder zwei Geldverdiener in der Familie haben, spüren die Wirtschaftskrise am brutalsten.

Täglicher Hindernislauf

Aber auch für den türkischen Mittelstand wird es immer schwieriger. Die galoppierende Geldentwertung der türkischen Lira, die allein in diesem Jahr 50 Prozent ihres Wertes gegenüber Dollar und Euro verloren hat, und die damit einhergehende hohe Teuerungsrate vor allem bei Lebensmitteln, machen auch den Einkauf im Supermarkt zu einem Hindernislauf. Viele Einkaufsketten haben ihr Angebot rationiert, weil sie davon ausgehen, dass das Produkt am nächsten Tag bereits teurer verkauft werden kann.

Oliven- und Sonnenblumenöl, aber auch Tomaten und Reis – Basiselemente der türkischen Küche – waren davon besonders betroffen. Der Preis für Sonnenblumenöl etwa ist im Jahresverlauf um 138 Prozent gestiegen.

Besonders hart trifft es auch solche Familien, die Devisen kaufen müssen. Viele türkische Familien schicken ihre Kinder zum Studium ins Ausland, auch in der Hoffnung, dass sie zukünftig ihr Geld in Europa verdienen können. Doch mit einem Lira-Einkommen ein Studium in Italien oder Spanien zu finanzieren ist mittlerweile schlicht unmöglich. Es sei denn, man hat seine Ersparnisse längst in Dollar eingetauscht. Rund 70 Prozent aller Guthaben wurden laut Angaben von Bankeninsidern bereits in Dollar umgetauscht, wie türkische Medien berichteten.

Unterstützung für Lira

Um an dieses Geld heranzukommen, hat die Regierung zuletzt ein Programm zur Unterstützung der Lira verkündet. Präsident Recep Tayyip Erdoğan kündigte an, dass ab Jänner Lira-Guthaben auf den Banken einen Ausgleich für den Wertverlust der Währung bekommen sollen. Wer seine Dollar wieder in die Landeswährung Lira eintauscht und für ein Jahr festlegt, soll zuzüglich zu den Zinsen auch die Differenz beglichen bekommen, die das Geld zu dem Zeitpunkt in Dollar wert wäre. Auch Unternehmen sollen Unterstützung bekommen. Zwar hat der Lira-Kurs nach dieser Ankündigung erheblich zugelegt, doch viele sind skeptisch, wie lange diese Ruhe anhält.

Umfragen auf Twitter zeigen, dass nur zehn Prozent der User, die sich an der Umfrage beteiligten, bereit waren, ihr Geld in Lira umzutauschen. Ökonomen, wie der frühere Zentralbankchef Durmus Yilmaz, der sich mittlerweile einer Oppositionspartei angeschlossen hat, weisen darauf hin, dass diese Subventionierung der Lira – wenn sie tatsächlich umgesetzt wird – nichts anderes sei als eine verdeckte Zinserhöhung, wie sie von Erdoğan bislang abgelehnt wurde. "Das ist eine typische 180-Grad-Drehung von Erdoğan", sagte Durmus.

26 Twitter-Nutzer angezeigt

Doch Kritik am Kurs von Erdoğan ist nicht erwünscht. Die türkische Bankenbehörde hat Strafanzeige gegen 26 Twitter-Nutzer eingebracht, die Kritik an der Lira-Krise üben. Sie hätten beabsichtigt, Währungskurse zu "manipulieren", heißt es. Unter den Angezeigten ist auch ein ehemaliger Zentralbankchef.

Vertrauen schwindet

Angesichts solcher Volten schwindet das Vertrauen in Erdoğans Wirtschaftspolitik immer mehr. Erst hat er die Unabhängigkeit der Zentralbank de facto aufgehoben und die Zentralbankchefs, die sich seiner Niedrigzinspolitik widersetzten, gefeuert, jetzt will er den Komplettabsturz der Währung durch eine verdeckte Zinserhöhung verhindern. Mit einer neuen Wirtschaftspolitik, die ausschließlich auf Exporte setzt und die Türkei durch Billiglöhne alternativ zu China zur Werkbank Europas machen soll, sollen Wachstum und Wohlstand zurückkommen. Dazu steht eine angekündigte Erhöhung des Mindestlohns um 50 Prozent nur scheinbar im Widerspruch. Gewerkschafter gehen davon aus, dass zukünftig dann der Mindestlohn, mit dem sich schon jetzt 50 Prozent aller Beschäftigten begnügen müssen, zum Regellohn wird. Die Schlangen an den Ständen für subventioniertes Brot werden wohl genauso zur Regel. (Jürgen Gottschlich aus Istanbul, 28.12.2020)