Schwefelmollys machen im Schwarm "die Welle", um angreifende Vögel abzuschrecken.

Foto: Juliane Lukas

La Ola, die Welle, wogt seit Mitte der 1980er-Jahre durch die Sportstadien der Welt. Mittelamerikanische Süßwasserfische kennen diese abgestimmte Massenbewegung im Schwarm freilich schon etwas länger – und sie hilft ihnen beim Überleben, wie Berliner Wissenschafter kürzlich herausgefunden. Das Team konnte zeigen, dass die von winzigen Fischen in Mexiko kollektiv erzeugten La-Ola-Wellen sowohl die Angriffslust der Raubvögel als auch deren Jagderfolg verringern.

Giftiger Lebensraum

Die Quellen von Baños del Azufre, in der Nähe der mexikanischen Stadt Teapa, sind ein unwirtlicher Lebensraum. Da es sich um vulkanische Quellen handelt, enthält das Wasser viel giftigen Schwefelwasserstoff und sehr wenig Sauerstoff. Nur speziell angepasste Fische wie der Schwefelmolly (Poecilia sulphuraria) aus der Familie der Lebendgebärenden Zahnkarpfen können dort überleben. Doch das Wasser ist nicht die einzige Herausforderung, mit der diese Fische fertig werden müssen.

Während Schwefelmollys die meiste Zeit nahe der Wasseroberfläche verweilen, um zu atmen, werden sie von vielen verschiedenen Vogelarten angegriffen. Doch diese zwei Zentimeter kleinen Fische sind gewappnet; sie treten in großen Schwärmen auf, die oft mehr als 100.000 Individuen umfassen. Wenn sich ein Vogel nähert oder angreift, reagieren die Fische gemeinsam, indem sie gestaffelt abtauchen, wobei jeder Fisch mit seinem Schwanz die Wasseroberfläche berührt. Aus der Ferne sieht es so aus, als würde der Schwarm auffällige Wellen erzeugen.

Wellen gegen die Fressfeinde

Interessant ist, dass die Fische diese Wellen mehrmals hintereinander ausführen, manchmal bis zu zwei Minuten lang. Das Forschungsteam der Humboldt-Universität zu Berlin, der Technischen Universität Berlin und des Leibniz-Instituts für Gewässerökologie und Binnenfischerei (IGB) untersuchte mit mexikanischen Kollegen von der Universität Tabasco, ob diese Wellenbewegung einen Einfluss auf das Verhalten der Vögel hat, die die Fische jagen.

Tatsächlich fanden die Forschenden heraus, dass Grünfischer (Chloroceryle americana), amerikanische Eisvögel, umso länger mit einem erneuten Angriff warteten, je mehr Wellen sie nach ihrem ersten Angriff erlebten. "Manchmal verließen die Vögel sogar den Ort des Geschehens, bevor sie zum nächsten Angriff übergingen", erläutert Carolina Doran, eine Autorin der im Fachjournal "Current Biology" erschienene Studie.

Jedoch lösen nicht alle angreifenden Vogelarten bei den Fischen diese wiederholten Wellen aus. Der Schwefelmaskentyrann (Pitangus sulphuratus) greift nämlich auf eine andere Art an als der Eisvogel, der mit seinem ganzen Körper ins Wasser eintaucht. Der Schwefelmaskentyrann steckt nur seinen Schnabel ins Wasser und verursacht dadurch keine so große Störung an der Wasseroberfläche. Die Angriffe dieses Vogels führen dazu, dass die Fische nur eine einzige Welle erzeugen, was es den Vögeln ermöglicht, ihre Angriffe immer wieder und mit sehr hoher Frequenz zu wiederholen.

Video: Die Wellen der Schwefelmollys.
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Mehr als reiner Fluchtreflex

Diese Beobachtung veranlasste die Forschenden dazu, die Wirkung von Wellen auf Schwefelmaskentyrannen ebenfalls zu untersuchen. Sie lösten wiederholte Fischwellen aus, wenn Schwefelmaskentyrannen ihre Jagd begannen, indem sie gezielt kleine Gegenstände ins Wasser einwarfen. Wenn sie mit mehreren Wellen konfrontiert wurden, verzögerten die Schwefelmaskentyrannen ihre Angriffe, wie es Eisvögel tun. Außerdem sank ihr Angriffserfolg und sie wichen eher auf andere Flussabschnitte aus.

Dass Fische abtauchen, um Vögeln zu entkommen, ist ein häufig beobachtetes Phänomen, aber das wiederholte Abtauchen, selbst wenn der angreifende Vogel nicht in der Nähe ist, ist einzigartig: "Da die beobachteten Wellen auffällig, wiederholt und regelmäßig waren und die Intervalle zwischen den einzelnen Wellen immer ähnlich lang waren, egal wie oft die Fische ihre Wellenbewegung wiederholten, gehen wir davon aus, dass die Wellenbewegungen mehr als eine reine Fluchtreaktion sind", erklärt David Bierbach, ein Autor der Studie.

Verwirrung und Information

Die Autoren vermuten, dass die Wellen dazu dienen könnten, den angreifenden Vogel zu verwirren, insbesondere wenn die Wellen vor dem Vogel "weglaufen". Aber das ist vielleicht nicht der einzige Grund: Die Wellenbewegung könnte sich im Zuge der Evolution als ein Signal der Fische an die Vögel entwickelt haben, von dem sowohl die Fische als auch die Vögel profitieren. Vögel können Zeit und Energie sparen, wenn sie den Fischschwarm in Wellenbewegung nicht angreifen, da ihre Erfolgsaussichten gering sind.

Für die Fische wiederum ist es von Vorteil, ein Signal zu geben, wenn sie einen Räuber entdecken, denn der Räuber wird daraufhin woanders jagen. "Eine solche Win-win-Situation ist notwendig, damit sich ein kollektives Signal zwischen Beute- und Räuberarten entwickeln kann", erklärt Jens Krause von der Humboldt-Universität zu Berlin. In einem nächsten Schritt wollen die Forschenden die Frage beantworten, wie viele einzelne Fische an den Wellen teilnehmen müssen, um den Effekt der Verzögerung von Angriffen und der Verringerung des Angriffserfolgs zu erzielen. (red, 30.12.2021)