Wird als Popstar mit psychischen Problemen gefeiert: Vincent van Gogh.

Foto: Andy Juchli / MAAG

Immer tiefer sinkt man in den Sitzsack. Im Takt klassischer Musik fliegen Landschaften und Sternenhimmel über die Wände. Es reicht, den Kopf zu bewegen, um den überdimensionalen Projektionen von Vincent van Goghs Gemälden zu folgen. Junge Paare halten sich an den Händen, Kinder sitzen auf den Schößen ihrer Eltern. Einmal Platz genommen, muss man sich nicht mehr erheben. Alles, was es zu sehen gibt, passiert direkt um einen herum. Als olfaktorische Untermalung kriechen zitronige Duftnoten unter den Mund-Nasen-Schutz. Durch die Sensory-4-Technologie sollen die Werke des Malers "alive" werden. Vincent lebt!

In der Wiener Metastadt im 22. Bezirk wird der niederländische Künstler mit Vornamen angesprochen und als Popstar mit psychischen Problemen gefeiert. Originalwerke gibt es in der Halle auf dem ehemaligen Fabriksgelände zwar keine, dafür eine Show mit 3000 hochauflösenden Bildern. Und: ein Spiegelkabinett mit Plastiksonnenblumen. Mit Van Gogh Alive – The Experience ist der internationale Hype um immersive Ausstellungen auch in Wien angekommen.

Van-Gogh-Klassiker in Überlebensgroß, wohin das Auge blickt.
Foto: Grande Exhibitions

Formate dieser Art touren seit geraumer Zeit durch die Welt, Werke von Malerstars wie Kahlo oder Monet werden ungeniert vermarktet, wobei van Goghs multimedialer Auftritt der prominenteste ist. Erst zuletzt wurde er durch die Netflix-Serie Emily in Paris befeuert. Auch in Linz machte eine Ausgabe halt.

Erfolgreiches Phänomen

Das Phänomen scheint sich exponentiell zu vermehren: Allein in den USA sind diese "Experiences" in 40 Städten zu sehen. Sie locken mit verwandten Titeln wie etwa Imagine Van Gogh: The Immersive Exhibition, sind im Grunde aber alle gleich. Dennoch behauptet jede Show von sich, das Original zu sein. Ist das groteske Massenbespaßung oder niederschwelliges Kunstangebot? Geht man von den hohen Publikumszahlen aus, funktioniert das Konzept offensichtlich. So behauptet der Veranstalter mit Sitz in Melbourne Van Gogh Alive sei die "besucherstärkste Multimedia-Ausstellung der Welt", die laut eigenen Angaben bereits über 8,5 Millionen Menschen in 70 Städten gesehen haben.

Warum ausgerechnet van Gogh? Es mag am umfangreichen und bekannten Œuvre des Malers liegen. In Wien werden eingangs die Lebensstationen und Werke des Künstlers verknappt referiert. Schnell hat man als Besucherin die Lektüre absolviert und darf sich von der animierten Bilderflut berieseln lassen. Zugegeben, es ist bequemer, die Show zu besuchen, als ein gesamtes Museum abzugehen. Im Gegensatz zu "stillen Galerien" könne man hier aber mit den Kunstwerken in Kontakt treten, heißt es.

"Keine Kunst – Unterhaltung"

Erst kürzlich äußerte der Direktor des Metropolitan Museum of Art in New York scharfe Kritik. "Diese multisensorischen Erfahrungen sind keine Kunst – sie sind eine Art der Unterhaltung", sagte Max Hollein gegenüber The Wall Street Journal. Im Gegensatz zu den ausverkauften Van-Gogh-Events leiden viele US-Museen – wie auch hierzulande – unter den Folgen der Pandemie und geschrumpften Besucherzahlen. In Dallas beispielsweise, wo zwei der Van-Gogh-Shows gleichzeitig laufen, kämpft eine Museumsschau mit Originalen des Künstlers um Aufmerksamkeit. Stellen diese Events tatsächlich eine Konkurrenz dar?

Die "Sternennacht", eines von Van Goghs berühmtesten Gemälden, als immersives Erlebnis.
Foto: Grande Exhibitions

Das Van-Gogh-Museum in Amsterdam sieht das nicht so. Ganz im Gegenteil werden die Multimedia-Ausstellungen dort als "lohnende Ergänzungen" verstanden. Das Argument: Nicht jeder Van-Gogh-Fan könne etwa nach Amsterdam reisen und die Originale besichtigen. Mit den immersiven Zugängen wäre es Menschen möglich, dennoch mit den weltberühmten Motiven in Berührung zu kommen, heißt es auf Anfrage seitens des Museums.

Teurer Spaß

Interessanterweise hat dieses sogar selbst so ein Format entwickelt. Anders als die anderen Shows macht Meet Vincent Van Gogh immer nur in einer Stadt halt und wirkt durch die Expertise dahinter und die Aufbereitung am professionellsten. Auf diese Weise möchte das Museum neues Publikum erreichen, das sonst keinen Zugang finden würde. Ein löblicher Versuch. Sollte man also besser im Sitzsack Platz nehmen?

Last Bullet Productions

Leider machen da die undemokratischen Eintrittspreise einen Strich durch die Rechnung. Abgesehen von der Ausgabe des Van- Gogh-Museums, wo ein Ticket mit elf Euro fast günstiger als ein regulärer Museumsbesuch ist, kosten die zahlreichen Vincent-Kopien bis zu 55 Dollar. Zum Vergleich: Um den Preis können zwei Erwachsene alle Ausstellungen im Metropolitan Museum in New York besuchen, und es bleiben sogar fünf Dollar übrig. In Wien verlangt man 25 Euro. Was als außergewöhnliche digitale Kunstausstellung beworben wird, ist ein überteuertes Spektakel. Nach 42 Minuten gelangt man durch den Shop zum Exit. Ciao, Vincent! (Katharina Rustler, 30.12.2021)