Wenigstens eine Sache steht wohl schon jetzt auch für das kommende Jahr fest: Immer wieder geht die Sonne auf. Ansonsten steht uns ein Jahr ins Haus, das sich aller Voraussicht nach ähnlich hartnäckig wie schon das abgelaufene Jahr weigert, sich nach unseren Erwartungen zu richten.

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Im November 2020 konnte Joe Biden den amtierenden Präsidenten Donald Trump aus dem Amt drängen. Dieser sinnt auf Revanche und stellt 2022 die Weichen dafür.
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Unsere Vorschau gleicht deshalb viel mehr dem Blick in eine Glaskugel als einer verlässlichen Prognose. Und doch gibt es im politischen 2022 einige Eckpunkte, an denen wir uns – Stand 30. Dezember 2021 – festhalten können.

Für Joe Biden könnten die Midterm-Elections in den USA am 8. November den Anfang vom Ende seiner Präsidentschaft markieren. Schon sein erstes Jahr im Weißen Haus verlief holprig: Flügelkämpfe drohen seine Basis zu zermürben, der Abzug aus Afghanistan geriet zum Desaster. Haben seine zerstrittenen Demokraten bisher beide Kammern des Kongresses unter Kontrolle, könnte sich dies dann grundlegend ändern.

Ex-Präsident Donald Trump, der noch immer eine gewichtige Rolle bei den Republikanern spielt, wittert seine Chance auf ein Comeback. Die vorhergesagte "republikanische Welle" könnte ihm den Boden dafür bereiten. Biden droht das Schicksal der "lahmen Ente".

Zahlreiche Wahlentscheidungen ...

Auch in Frankreich stehen im neuen Jahr Wahlen an. Emmanuel Macron, der Amtsinhaber, liegt in den Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich am 10. April meilenweit vorn. Der Liberale, dessen Land im ersten Halbjahr 2022 auch die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, genießt derzeit so hohe Beliebtheitswerte wie kaum zuvor ein anderer französischer Präsident wenige Monate vor der Wahl.

Und auch sein Draht zum neuen deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz erweist sich bislang als stabil. Von rechts außen weht Macron aber scharfer Gegenwind ins Gesicht: Gleich zwei Personen, nämlich wie schon einmal Marine Le Pen und zum ersten Mal Éric Zemmour, hoffen auf die Stichwahl im kommenden Frühjahr.

Im neuen deutschen Kanzler Olaf Scholz hat der französische Präsident Emmanuel (li.) Macron einen wichtigen Verbündeten.
Foto: AFP / Pool / John Thys

Während die Landtagswahlen in den deutschen Bundesländern Saarland (27. März), Schleswig-Holstein (8. Mai), Nordrhein-Westfalen (15. Mai) und Niedersachsen (9. Oktober) erste, aufschlussreiche Stimmungstests für den sozialdemokratischen Kanzler Scholz und seine rot-gelb-grüne Ampelkoalition werden, schickt man sich andernorts an, die "starken Männer" aus ihren Ämtern zu jagen: Jair Bolsonaro könnte bei den Präsidentenwahlen in Brasilien am 2. Oktober gegen den linken Ex-Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva den Kürzeren ziehen. Auf den Philippinen scheidet Präsident Rodrigo Duterte am 9. Mai aus dem Amt.

Und auch in Ungarn wird im Frühling gewählt: Dem rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orbán stellt sich dieses Mal mit Péter Márki-Zay ein Oppositionskandidat entgegen, der sich schon in einer Urwahl bewiesen hat. Zwischen Tarvisio und Taranto hingegen pfeifen die Spatzen von Italiens Dächern, dass ein anderer "starker Mann" ein Comeback – oder eine letzte Zugabe – plant: Bei der Präsidentenwahl im Parlament in Rom könnte der 85-jährige Silvio Berlusconi am Ende gewinnen. Totgesagte leben schließlich manchmal wirklich länger.

Weniger unsicher ist die Lage für das Spitzenpersonal der EU: Schon im Jänner tritt im Europaparlament in Straßburg die Maltesin Roberta Metsola die Nachfolge des italienischen David Sassoli als Parlamentspräsidentin an. António Guterres, seines Zeichens Uno-Generalsekretär, kann für 2022 mit stabilen beruflichen Verhältnissen rechnen. Am Neujahrstag beginnt seine zweite fünfjährige Amtszeit. Mitte November muss er – und mit ihm die Welt – auf der Klimakonferenz COP 27 im ägyptischen Badeort Sharm el Sheikh neue Anstrengungen vereinbaren, um die Menschheit vor den Auswirkungen der Klimakatastrophe zu bewahren.

... aufflammende Konflikte ...

Pandemie, Klima, Inflation, politische Spannungen: An Krisenherden mangelte es 2021 nicht. Wenig spricht dafür, dass sich dies 2022 ändern wird – auch auf dem Balkan: In Bosnien-Herzegowina, wo am 2. Oktober gewählt wird, droht ein Wiederaufflammen der ethnischen Konflikte, die schon in den 1990er-Jahren zum Bürgerkrieg geführt hatten. Der Führer der bosnischen Serben, Milorad Dodik, könnte seinen sezessionistischen Kurs noch intensivieren und damit das fragile Gleichgewicht in dem Balkanstaat durcheinanderbringen.

2021 war Wien Ort von Verhandlungen zu Irans Atomprogramm. Dieses wird auch 2022 globale Bedeutung haben.
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Ebenso wird der Atomstreit mit dem Iran weiter Thema sein: Scheitern die Wiener Gespräche zwischen dem Iran, den E3 (Großbritannien, Frankreich, Deutschland), Russland und China sowie dem EU-Außenbeauftragten über eine Wiederbelebung des JCPOA (Joint Comprehensive Plan of Action), droht Israel mit militärischen Schritten gegen die iranischen Nuklearanlagen. Die USA, die nach ihrem Ausstieg aus dem Vertrag unter Donald Trump nur indirekt mitverhandeln, warnen: Der Iran könnte innerhalb weniger Wochen genug hochangereichertes Uran für eine Nuklearwaffe besitzen.

Aber auch sonst könnte 2022 im Nahen Osten abermals ein turbulentes Jahr werden. Dass die umstrittene Fußball-Weltmeisterschaft am 18. November in Katar eröffnet wird, gehört dabei zu den vergleichsweise friedlichen Aussichten. Syrien, das 2012 wegen des Bürgerkriegs suspendiert wurde, könnte 2022 in die Arabische Liga (AL) zurückkehren. Ägypten und Saudi-Arabien etwa wollen das Regime von Bashar al-Assad in den "arabischen Schoß" zurückholen. Ein Grund dafür ist einmal mehr der große Einfluss des Iran.

Ob die für den 24. Dezember 2021 geplanten und kurzfristig auf Ende Jänner 2022 verschobenen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen Libyen endlich Befriedung bringen oder doch einen neuen Bürgerkrieg, ist unklar. Weiter im Osten, in Afghanistan, hegt man hingegen kaum Hoffnung auf ein friedliches 2022: Nach der Rückkehr der radikalislamischen Taliban an die Macht und dem chaotischen Rückzug der ausländischen Truppen im vergangenen Sommer leidet die afghanische Bevölkerung, allen voran die Frauen, unter dem neuen Regime. Wie stabil die Herrschaft der Taliban tatsächlich ist, wird sich auch daran messen, wie schnell sie die dramatische Wirtschaftskrise in den Griff bekommen.

... und ungelöste Probleme

Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen wegen des Truppenaufmarschs an der ukrainischen Grenze dürften uns auch 2022 beschäftigen. Die USA und die EU warnten Moskau vor einer Militäroperation in der Ukraine. Und auch die Beziehungen zu China dürften einmal mehr einer Belastungsprobe unterzogen werden. Im Februar will sich das KP-Regime während der XXIV. Olympischen Winterspiele in Peking feiern lassen.

Weltweit wurde 2021 für die Rechte der Uiguren demonstriert, das wird sich auch im kommenden Jahr nicht ändern.
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Die USA und andere westliche Länder wollen über das Sportfest aber einen diplomatischen Boykott verhängen, weil China die Menschenrechte der muslimischen Minderheit der Uiguren verletzt. Taiwan, das von Peking als abtrünnige Provinz betrachtet wird, fürchtet sich vor einem schlimmen Erwachen, sobald der olympische Tross weitergezogen ist. Seit Jahren bereitet man sich dort auf den Ernstfall vor: den Einmarsch der übermächtigen chinesischen Volksbefreiungsarmee. Die USA, die traditionelle Schutzmacht Taiwans, ebenso.

Ruhig, so viel Prognose muss sein, wird 2022 wohl nicht. (Florian Niederndorfer, 30.12.2021)