Das Kunstkollektiv "Aufstand der Schwestern" gedachte im Dezember Österreichs Femizidopfern.

Foto: Christian Fischer

Geht es um Frauenmorde oder um den Verdacht, dass solche geschehen sind, dann steht zu allererst die Tat im Fokus. Was ist passiert, wo ist das passiert, wie ist das passiert? Und vor allem: Wer war es? Das sind die Fragen, die in den ersten Tagen nach einem mutmaßlichen Femizid diskutiert und meist auch beantwortet werden. Das ist eines naheliegend: Immerhin muss der mutmaßliche Täter in vielen Fällen erst gefunden, später einvernommen werden, und in den allermeisten Fällen wird er auch vor Gericht gebracht.

Was dabei aber in den Hintergrund gerät, sind jene Leben, die auf brutale Weise ausgelöscht werden – die Opfer und deren Vergangenheit finden in der Berichterstattung nur wenig Beachtung. Das hat freilich damit zu tun, dass ihre Identität rechtlich auch nach ihrem Tod geschützt ist. Das hat aber auch damit zu tun, dass Angehörige, die über sie erzählen könnten, in diesen Situationen mit Recht Besseres zu tun haben, als mit Medienleuten zu reden.

Um dieses Ungleichgewicht zumindest ein wenig zu beseitigen, schreibt DER STANDARD stellvertretend für alle getöteten Frauen über das Leben von vier von ihnen. Angehörige, Freunde und Freundinnen erzählen, was diese Frauen ausgemacht hat, wofür sie standen und warum jede Einzelne von ihnen eine Lücke hinterlässt.

5. März, Wien: Nadine W.

"Der kürzeste Weg ins Herz anderer".

Was bleibt zu sagen, wenn einem Menschen Unaussprechliches angetan wird. So unfassbare Gewalt, die in den Vordergrund und an den Anfang der Berichte über Nadine W. gestellt wurde – auch im STANDARD. Als ob die Grausamkeit damit irgendwie fassbarer gemacht werden könnte, was natürlich unmöglich ist. Dafür gibt es keine Worte. Wer sich aber mit Leuten unterhält, die Nadine kannten, stellt fest: Es gibt so viel zu sagen. Über eine junge Frau, die sich den Traum vom eigenen Geschäft – einer Trafik im neunten Bezirk – erfüllte, hart arbeitete, die von ihren Kunden für Herzlichkeit und Hilfsbereitschaft geschätzt wurde und ein riesengroßes Herz für Tiere hatte.

Nadine habe zu den Menschen gehört, die man spontan einfach mochte, sagt ein ehemaliger Stammkunde. Viele, die regelmäßig bei Nadine Zigaretten oder Zeitungen kauften, verabschiedeten sich in einem digitalen Kondolenzbuch von ihrer ehemaligen Trafikantin. Eingerichtet hatte dies Nadines Cousine, die anlässlich der Beileidsbekundungen bei der Trafik sah, wie viele Menschen sich verabschieden wollten.

Ihr jedes Mal geäußertes "Viel Glück" nach dem Kauf eines Lottoscheins wird in vielen dieser Beiträge als willkommene Konstante im grauen Alltag beschrieben. Für manche war Nadine irgendwann auch mehr als irgendeine Trafikantin. "Ich habe mich auf unsere Begegnungen immer gefreut, weil ich mir sicher sein konnte, dass ich mit einem Lächeln auf den Lippen und in meiner Seele rausgehen werde. Du gehörst zu den wenigen Menschen, die sofort den kürzesten Weg in die Herzen anderer finden", schreibt eine zur Freundin gewordene Kundin zum Abschied. Dort, wo Kunden mit einem Lächeln auf den Lippen aus der Tür traten, liegen heute noch immer Kerzen und Blumen.

Die Freizeit verbrachte Nadine meist in Niederösterreich, wo nicht nur ihre Familie – Vater und Mutter, ihre Schwester mit Familie und ein Bruder – wohnt, sondern sie auch Pferde hatte, um die sie sich kümmerte. Tiere, das waren Nadines große Leidenschaft, das merkte auch die Kundschaft im Alsergrund. Wer mit Hund das Geschäft betrat, habe immer mit einem Leckerli rechnen können.

Den letzten bei ihr in der Trafik gelösten Lottoschein haben einige Kunden gar nicht mehr eingelöst. Einer von ihnen schreibt: "Ich werde ihn behalten, wie all die lieben Erinnerungen an sie."

29. April, Wien: Marija M.

"Sie hatte so viel am Buckel."

Eine "ganz Zarte" sei sie gewesen, sagt ihr Vater über Marija M. Nur 1,52 Meter groß und 42 Kilo schwer, "und doch hatte sie so viel am Buckel". Zwei Kinder hat sie ernährt, dazu noch ihren früheren Partner – jenen Mann, der kürzlich wegen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe und Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher verurteilt wurde und von dem Marijas Vater nur als "das Monstrum" spricht.

Eigentlich hatte sich die 35-Jährige schon Mitte April von dem Mann getrennt – wieder einmal, wie so oft in den letzten 15 Jahren. "Sie hat versucht, aus ihm einen normalen Menschen zu machen", sagt der Vater, "hat dafür gesorgt, dass er eine Arbeit, eine Krankenversicherung hat." Diese Aufopferung war Teil von Marijas Charakter. "Sie war ein herzensguter Mensch, eine Liebe, eine ganz Nette. Jeder, der sie kannte, hat sie ins Herz geschlossen, egal ob Nachbarn oder Kollegen", sagt der Vater.

Selbst im Job kümmerte sich Marija um andere. Erst machte sie einen Abschluss als Zahnarztassistentin, später sattelte sie um und wurde diplomierte Kinderkrankenschwester – zuerst in der Rudolfsstiftung, dann in der Klinik Floridsdorf. Eine Vollzeitstelle ging sich bei den vielen anderen Aufgaben aber nicht aus, "sie hat immer geschaut, dass sie schnell heimkommt", sagt der Vater. Sie habe die Kinder in den Kindergarten und in die Schule gebracht, danach sei sie viel mit ihnen draußen gewesen: spazieren, im Park und im Tiergarten.

Schon als sie selbst noch ein Kind war, habe sie Tiere geliebt. "Wir hatten immer ein Haustier: Hasen, Hamster, Fische, einen Hund", erzählt der Vater. Bis Marijas jüngeres Kind, ein Sohn, auf die Welt kam, habe die Familie eine Hündin gehabt, einen Jack Russel Terrier. Doch der Junge sei allergisch gewesen, also musste man ihn hergeben. "Sie wollte ihn aber nicht irgendwohin geben", erinnert sich der Vater, "sondern zurück dorthin, wo sie ihn geholt hat: einen Bauernhof, wo genug Auslauf und andere Hunde, Pferde und Hasen" sind.

Wie viele Menschen heute noch für Marija einstehen, zeigte sich auch beim Prozess gegen ihren Mörder. Viele Familienangehörige waren während des gesamten Prozesses anwesend: die Eltern und Brüder, aber auch die Schwester des Angeklagten, die gleichzeitig die beste Freundin Marijas war. Am zweiten Prozesstag hielten die Angehörigen Fotos ihrer Tochter, Schwester und Freundin in den Händen, allerdings nicht lange. Dem Richter zufolge sei der Gerichtssaal nicht der richtige Ort dafür.

13. September, Wien: Fadumo H.

"Sie war selbstbestimmt."

Engagiert und lebensfroh, so beschreiben Wegbegleiterinnen und Freundinnen Fadumo H. einhellig. Sie setzte sich für Emanzipation, Integration und gegen Gewalt an Frauen ein. Die 35-Jährige kümmerte sich auch um Frauen, die von ihren Ex-Partnern bedroht wurden. Zu ihnen gehörte Shugri A. Beide Frauen wurden am 13. September von Shugris Ex-Mann getötet.

"Fadumo war selbstbewusst und selbstbestimmt", erzählt Kerstin, die Fadumo in einer Frauenwerkstatt kennenlernte und sie dabei unterstützte, Bilder zu malen. Doch trotz ihres selbstsicheren Auftretens hätte man schnell gemerkt, dass sie Schlimmes erlebt hat. Narben an ihrem Körper und eine schwere Stahltür vor ihrer Wohnung zeugten noch deutlich davon. Fadumos Leben war auch durch ihren eigenen Ex-Mann bedroht, der sie mehrmals tätlich angegriffen hatte. Er wanderte schließlich nach Frankreich aus. Fadumo wusste, welche gefährliche Situation sie damit überstanden hatte. "Wahrscheinlich hat sie sich auch deshalb so bemüht, anderen Frauen zu helfen, denen es ähnlich ging", sagt Kerstin. "Sie hat bestimmt nicht gedacht, dass sie noch einmal im Leben Gewalt ausgesetzt sein würde."

Fadumo wurde in Mogadischu geboren, ihre Mutter organisierte vor 13 Jahren ihre Flucht. In ein Land, wo das Leben für Frauen sicherer schien als im kriegsgebeutelten Somalia. In Österreich kämpfte Fadumo in der somalischen Community gegen Genitalverstümmelung bei Mädchen, dolmetschte bei der Diakonie und bei der Caritas. Für Sunwork macht sie gerade die Ausbildung zur Beraterin. Die Energieberatungsstelle hilft Armutsbetroffenen und Menschen, die erst kurz in Österreich leben, beim sparsamen Umgang mit hiesigen Gasthermen und Heizungen. "Fadumo hat immer für positive Stimmung gesorgt, auch wenn alles gerade sehr schwierig erschien. Ihre Fröhlichkeit war gepaart mit einer großen Tiefgründigkeit", sagen ihre Freundinnen Bettina und Karin über sie.

"Sie war meine Heldin", sagt eine andere Freundin, Grace, über Fadumo. Sie lebt schon seit 1981 in Wien, trotzdem habe ihr Fadumo das Gefühl gegeben, sie könne eher Grace helfen als umgekehrt. "Wir haben sie nicht beschützen können", sagt Grace und weint. Mit "wir" meint sie Feministinnen, mit denen sich Fadumo gemeinsam engagierte. Drei Monate nach ihrem Tod weiß Grace genau, was sie in Gedenken an Fadumo will: "Es muss eine Fadumo-Straße in Wien geben, dafür will ich kämpfen."

19./20. November, Wien: S. E.

"Sie hat gesagt, sie will ihre Enkerln erleben."

Das mit dem Kopftuch war so eine Sache für S. Erst trug sie es, dann wieder nicht, doch stets war das, weil sie es wollte – und meist genau das Gegenteil von dem, was die anderen von ihr wollten.

Als sie noch jung war, so erzählte sie später ihren beiden mittlerweile erwachsenen Kindern, da habe sie es getragen, nachdem sie aus dem Iran nach Österreich gekommen war. "Das hatte etwas Antiimperialisitisches für sie", beschreibt es ihr Sohn heute. Vor den Eltern versteckte sie das Kopftuch unter der Matratze, die seien dagegen gewesen, dass sie es trug.

Später, als Erwachsene, da besetzte S. im Zuge der iranischen Revolution die Botschaft in Österreich –und dann fing sie an, dort zu arbeiten. Da ereignete sich jener Moment, in dem sie sich entschieden haben soll, das Kopftuch abzunehmen.

Nach der Revolution, so erzählt die Tochter von S. heute nach, "da gab es einen Vorfall in der Botschaft: Eine Frau trug kein Kopftuch, darum wollte der Botschafter nicht mit ihr sprechen. Dann hat meine Mutter ihr eigenes Kopftuch abgelegt und es der Frau gegeben. Seitdem hat sie kein Kopftuch mehr getragen – aus Solidarität der Frau gegenüber."

Als durch und durch politisch beschreiben die beiden erwachsenen Kinder ihre Mutter, als sie dem STANDARD von ihr erzählen: Zum Beispiel war sie glühender Johanna-Dohnal-Fan. Nachdem die Frauenministerin 1995 aus der österreichischen Regierung entlassen worden sei, da habe die Mutter vor dem Fernseher geweint, erinnern sich die Kinder. Und auch im Alter hörte das Engagement nicht auf: Bei Fridays For Future sei sie mitmarschiert, erzählt der Sohn, und: "Sie war auch immer am Start, wenn Kinder abgeschoben wurden." Geflüchtete und vor allem geflüchtete Frauen bei sich zu Hause aufzunehmen, das sei selbstverständlich gewesen für S.

Abseits des Politischen spielten Kinder eine große Rolle in S. Leben. Einerseits freilich die eigenen, andererseits freute sie sich auf Enkel. "Sie hat immer gesagt, sie will so lange leben, bis wir eigene Kinder haben", sagt der Sohn heute – ein Enkerl hat sie erlebt. Dazu kam bis zuletzt, bevor sie während der Pandemie in Pension ging, der Job, den S. nach der Botschaft annahm: Sie arbeitete in einem Kindergarten, erst als Helferin, dann als Pädagogin. Einige der Kinder seien Mitte Dezember auch zur Beerdigung gekommen, erzählt der Sohn. Sie wollen nun einen Gedenkbaum für S. pflanzen. Der Tatverdächtige, ihr Partner, wurde noch nicht gefasst. (Lara Hagen, Beate Hausbichler, Gabriele Scherndl, 30.12.2021)