Eine Fußgängerin vor der "National Covid Memoria Wall" in London. Die Zahlen gehen im Königreich wieder hoch – aber nicht überall werden Maßnahmen verschärft.

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Im Kampf gegen das Coronavirus treten die Unterschiede zwischen den Regionen des völlig uneinigen Königreichs zum Jahresende klar zutage. Während das schottische Parlament am Mittwoch auf einer Sondersitzung neue Einschränkungen durch die dort regierende Nationalistenregierung absegnete und damit Silvesterpartys praktisch unmöglich machte, beließ es der für England zuständige Premierminister erneut bei ernsten Ermahnungen. "Alle sollten Silvester vorsichtig und vernünftig feiern", sagte Boris Johnson und empfahl dringend die Booster-Impfung, um der Omikron-Infektionswelle Herr zu werden.

Gastronomiebetriebe in grenznahen Gebieten Englands stellen sich auf einen Ansturm feierwilliger Schotten und Waliser ein. Schottlands Vizepremier John Swinney teilte zwar streng mit, eine Reise entspreche nicht "dem Geist der Restriktionen". Wie die Labour-geführte Regionalregierung von Wales kann aber auch Edinburgh die Bürger nicht an der Feierfahrt nach England hindern.

Volle Stadien in England

In den Regionen erschweren wieder härtere Corona-Bestimmungen das Alltagsleben. So dürfen die Waliser nur noch in Gruppen von bis zu sechs Menschen zusammenkommen; in Schottland dürfen Pubs und Restaurants nur noch am Tisch bedienen, Nachtclubs bleiben generell geschlossen. Die zentrale Silvesterfeier Hogmanay in Edinburgh hatte Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon schon vor Weihnachten abgesagt. Alle Sportveranstaltungen müssen in leeren Stadien ausgetragen werden.

Hingegen ließen sich die Fußballer der englischen Premier League noch am Dienstagabend von zehntausenden Fans anfeuern, blieben Theater und Konzertsäle ohne Einschränkung geöffnet. Außer zur Booster-Impfung fordert die Londoner Regierung zudem die Bürger eindringlich dazu auf, vor dem Aufbruch zu privaten Zusammenkünften oder Restaurantbesuchen zu Hause einen kostenlosen Antigentest zu machen. Über dessen Akkuratesse gibt es unterschiedliche Angaben; jüngste Studien sprachen von einer 85-prozentigen Treffsicherheit.

Zu wenige Tests

Die Bevölkerung scheint durchaus willig zu sein, das kurze Bohren in beiden Nasenlöchern und die anschließende 15-minütige Wartezeit auf sich zu nehmen. Allerdings gibt es ernste Versorgungsschwierigkeiten. "Sorry, keine Tests zur Verfügung", heißt es immer wieder auf der Regierungswebsite, die vollmundig die rasche Zustellung eines Siebenerpacks per Post verheißt. Auch vielen Apotheken ist der Vorrat längst ausgegangen.

Die zuständige Gesundheitsbehörde UKHSA beteuert, man habe die Produktion auf 900.000 Tests pro Tag hochgefahren, was bei einer Bevölkerung von 67 Millionen den Bedarf keineswegs deckt. Die "lückenhafte und unbeständige" Belieferung ihrer Mitglieder habe sich seit Wochen nicht geändert, ärgert sich Leyla Hannbeck vom Apothekenverband AIMP. UKHSA müsse "dringend an Lösungen arbeiten".

Hohe Hospitalisierungszahlen

Das Königreich geht mit Inzidenzen von 1.200 ins neue Jahr, in einzelnen Stadtteilen der Hauptstadt sind es mehr als 2.000 Fälle pro 100.000 Einwohner. Lässt sich diese Position auf Dauer durchhalten, oder bedarf es auch in England größerer staatlicher Eingriffe?

Für beide Positionen gibt es gute Argumente. Die Sorgenvollen verweisen auf die langsam, aber stetig steigende Zahl der Covid-Kranken, die zur Behandlung in die Krankenhäuser kommen müssen. Diese erreichte am Dienstag den Stand von Anfang März, als das nationale Gesundheitssystem NHS gerade noch an einer Katastrophe vorbeigeschrammt war.

Auch die Zahl der Infizierten stieg immer weiter auf zuletzt mehr als 129.000 Fälle täglich. Selbst wenn der Krankheitsverlauf bei der Omikron-Variante – wie von mehreren Studien vor Weihnachten belegt – tatsächlich milder ausfällt als bei der bisher vorherrschenden Delta-Mutante, werde das NHS durch die schiere Zahl von Patienten gehörig auf die Probe gestellt, argumentiert Matthew Taylor vom Verband der Krankenhausträger. Zudem müssen Arztpraxen und Spitäler mit hohen Personalausfällen fertig werden, weil sich viele Angestellte in der siebentägigen häuslichen Quarantäne befinden.

Weniger Tote

Die Optimisten verweisen auf John Bell. Der Regius-Professor für Immunologie an der Uni Oxford hält die "schrecklichen Szenen vor Jahresfrist für Geschichte". Auf dem Höhepunkt der damaligen Welle im Januar gab es täglich bis zu 1.600 Covid-Tote zu beklagen; Mitte Dezember – durch die Feiertage ist die Statistik ins Hintertreffen geraten – starben täglich durchschnittlich 112 Menschen an den Folgen einer Infektion mit Sars-CoV-2.

Angesichts der neuen Omikron-Studien, wonach die Wahrscheinlichkeit einer schweren Erkrankung um bis zu zwei Drittel niedriger liegt als bei der gefährlichen Delta-Variante, reden manche Wissenschafter sogar einer Verkürzung der Quarantäneperiode für positiv Getestete von sieben auf fünf Tage das Wort. Dies stehe "derzeit nicht zur Diskussion", heißt es dazu aus dem Londoner Gesundheitsministerium. (Sebastian Borger aus London, 30.12.2021)