Theresia Hofer war die erste, die in Österreich offiziell gegen Corona geimpft wurde – ein Spektakel.

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Jede Impfdosis war ein kleiner Schatz. Zumindest zu Beginn. Theresia Hofer war jene Pensionistin, die hierzulande die erste bekam. Die Regierung lud Ende 2020 in die Med-Uni, um das zu beobachten. Zumindest aus der Ferne. Über mehrere Screens konnten die anwesenden Medienleute auf einen Stream starren, in dem fünf Nadeln in fünf Oberarme gesteckt wurden und Politiker mehr oder minder ungezwungen im Warteraum mit Impflingen plauderten. Heute weiß man: Durch die Impfungen wurde Österreich vor über 6000 Todesfällen bewahrt.

Doch vieles hat sich seit diesem Tag geändert. In der Politik wurden Köpfe getauscht, und es gibt Menschen, die lieber Strafen zahlen wollen, als sich impfen zu lassen – während andere demnächst den vierten Stich bekommen werden. Was ist geschehen?

Zuerst war der Neid

Es dauerte nur wenige Tage, bis Charakterzüge übernahmen, die im Christentum als Todsünden gelten: Neid und Gier. Es folgten Intrigen. Die Bürgermeister zogen den Groll der Gesellschaft auf sich, weil manche von ihnen sich schon im Jänner ihren Stich abholten. Dabei, und das war der Kalender, nach dem sich das erste Halbjahr 2021 richtete, gab es ein genaues Schema: Wer muss was arbeiten, wie alt und in welchem Zustand sein, um dranzukommen? Als sich der Feldkirchner Bürgermeister für seine Impfung entschuldigte, war das zahlreichen Medien eine Schlagzeile wert.

Gier dominierte aber auch höherrangige Ebenen der Politik. Gerade in reichen Ländern konnte man nicht genug Impfdosen an sich reißen. Im März etwa zelebrierte Altkanzler Sebastian Kurz (ÖVP) offensiv seine Verhandlungen mit Russland außerhalb des EU-Pakts. Es ging um die Lieferung von einer Million Sputnik-V-Impfdosen. Dafür ließ sich Kurz mit dem russischen Botschafter Dmitrij Ljubinskij ablichten. Dem Kanzleramt war es wichtig zu betonen, dass Kurz und Russlands Präsident Wladimir Putin deshalb sogar miteinander telefoniert haben sollen.

Just als der Impfstoffstreit in Europa knapp vor dem Ende stand – es ging darum, wer mehr oder weniger Dosen abrufen konnte –, und Österreich fast 200.000 Biontech-Pfizer-Dosen bekam, ging Kurz mit Sputnik-Details nach außen. Der Deal soll sich damals laut Kurz "auf den letzten Metern" befunden haben – er wollte damit wohl auch Druck auf die EU-Verhandlungen ausüben.

Doch keine der versprochenen Sputnik-V-Dosen kam je in Österreich an. Bis heute ist Sputnik nicht durch die EMA zugelassen – Kurz schloss einst gar eine Notzulassung nicht aus. Außerdem erreichten im April eine Million Dosen Biontech früher als gedacht das Land. Seither war Österreich nicht mehr auf Sputnik angewiesen, die "de facto am Ende" angelangten Verhandlungen verliefen im Sand.

Ein Kern bleibt übrig

Dieser Impfstoffstreit ging auch so weit, dass ein Spitzenbeamter seinen Posten räumen musste. Auslöser – oder Vorwand – war ein Versäumnis bei der Impfstoffbestellung, der Vorwurf wurde ebenfalls im März 2021 laut. Der hochrangige Beamte Clemens Martin Auer, damals Impfkoordinator, hätte 100.000 zusätzliche Dosen des Biontech-Vakzins aus einem Reservetopf der EU abrufen können, habe es aber unterlassen, hieß es. Besagte Impfstoffmenge hätte damals für nur 48 Stunden gereicht.

Als die ÖVP am 12. März Auers Rückzug forderte, war der damalige Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) gerade wegen eines Kreislaufzusammenbruchs im Spital, Monate später erklärte er bei seinem Rücktritt, dass ihm die Kraft ausgehe. Damals hat er sich drei Tage später wieder so weit erholt, um Auer, an dem er vorher eisern festgehalten hatte, von seinem Posten abzuziehen.

Auer avancierte in der Folge auf dem internationalen Parkett und wurde Anfang Juni 2021 zum Vizepräsidenten des Exekutivrats der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gewählt. Seine neue Funktion füllt er als – nach wie vor – ministerieller Sonderbeauftragter aus. Zu seinem damaligen Abgang will er, vom STANDARD angerufen, nun nichts sagen: "Für mich ist dieses Thema abgeschlossen. Ich spiele dieses Spiel nicht mehr mit."

Die Phase des Impfneids währte immerhin einige Monate, bis sie schleichend von einer kollektiven Erleichterung abgelöst wurde: Im Juni wurde der erste Höhepunkt der Impfkampagne verzeichnet, 144.000 Stiche wurden da an nur einem Tag gesetzt. In diesen Wochen fluteten Selfies von Oberarmen mit Pflastern soziale Medien, wer wann welches Vakzin bekam, war das Top-Smalltalk-Thema.

Doch dann kam die Stagnation, ab Juni fiel die Zahl der Erststiche gar rapide ab. "Niederschwellige Angebote bereitstellen" war der Slogan des Sommers. Der Impfplan wurde über Bord geworfen, an allerlei gewöhnlichen und ungewöhnlichen Orten wurden Impfstraßen hochgezogen.

Dennoch: Für manche wog und wiegt die Tatsache schwer, dass man sich trotz Impfung anstecken, sogar im Spital landen kann. Das stimmt. Aber Geimpfte landen dort deutlich seltener als Ungeimpfte. Und: Geimpfte gibt es mehr als Ungeimpfte, ein kleiner Bruchteil von ihnen kann also größer erscheinen als ein großer Bruchteil der Ungeimpften.

Die ausgeschlossene Pflicht

Unter den Ungeimpften ist aber auch ein Kern, der selbst vor Straftaten und Gewalt nicht zurückschreckt – und sich zunehmend radikalisiert. Das zeigt sich etwa bei Demons trationen, die regelmäßig Straßenzüge im ganzen Land okkupieren und bei denen es zu verbalen oder körperlichen Angriffen auf Gesundheitspersonal, Polizei und Medienleute kommt. Und das zeigen auch Betrugsfälle, bei denen Impfpässe gefälscht und verkauft werden. Für sie wird nun ein Gesetz gebaut.

Ein Sprung zurück in den Dezember 2020. Da schloss Anschober aus, dass es eine Impfpflicht geben werde. Derartige Sager kamen in den folgenden Monaten auch von seinem Nachfolger Wolfgang Mückstein (Grüne) und von Kurz. Dessen ungeachtet verkündete Kanzler-Nachfolger Alexander Schallenberg (ÖVP) im November die Impfpflicht ab im Fe bruar 2022. Zwar wird niemand mit körperlichem Zwang zum Stich genötigt, wie von manchen Skeptikern und Skeptikerinnen behauptet, doch es werden hohe Geldstrafen fällig.

Bis die Impfpflicht in Kraft tritt, werden noch zahlreiche Impfdosen ungenutzt bleiben und ablaufen. Mehrere Tausend Dosen musste Österreich deswegen bereits wegwerfen. (Irene Brickner, Jan Michael Marchart, Gabriele Scherndl, 31.12.2021)