Im Gastkommentar erinnert sich die Kriminalsoziologin Christa Pelikan an Desmond Tutus Praxis der "restorative justice". Der Friedensnobelpreisträger und Erzbischof ist am Sonntag im Alter von 90 Jahren in Kapstadt gestorben.

Südafrika, 1998. Desmond Tutu übergibt dem südafrikanischen Präsidenten Nelson Mandela den Abschlussbericht der Untersuchungskommission.
Foto: AFP / Walter Dhladhla


"Desmond Tutu has passed away" – so lautet die sanft-tröstliche englische Formel, die sich über das deutsche "ist verstorben" legt. Und tatsächlich sind die Gefühle, die sein Tod hervorruft von sanft-wehmütiger Art; wenngleich der Verlust, den dieses Dahingehen bedeutet, doch auch groß und schmerzlich ist – der Verlust seiner Leidenschaft, seiner Klugheit, seines unbändigen Lachens.

Aber ich will von etwas reden, das – hierzulande jedenfalls – zu wenig Beachtung gefunden hat. Es ist Desmond Tutus Erfindung und Praxis einer "restorative justice" im Rahmen der Truth and Reconciliation Commissions (TRC), der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen nach dem Apartheidregime. Dabei handelte es sich eben nicht nur um Varianten eines Untersuchungsverfahrens; es ging um die Herstellung einer anderen Gerechtigkeit, die sich nicht auf die der angemessenen Bestrafung reduzieren lassen wollte, die vielmehr geeignet sein konnte, den Teufelskreis von Verletzung und vergeltender Verletzung zu durchbrechen.

Die Kritikpunkte

Das Herausfinden der Wahrheit, die genaue Darstellung dessen, was geschehen ist, durch die Täter und durch das Zeugnis der Opfer, bildete die Voraussetzung für die Entscheidung über eine Straffreiheit der Täter; das Einverständnis der Opfer eine weitere. Es gibt außer den großen mehrbändigen Berichten über die Tätigkeit der Kommissionen eine umfangreiche Literatur – zum grundlegenden Konzept, mehr noch zur Praxis der TRC. Ich nenne – Vivienne Walt, der Korrespondentin des Time Magazin folgend – die wichtigsten Kritikpunkte: das Ausbleiben einer Strafverfolgung in den Fällen, in denen es zu keiner "Amnestie" gekommen war – sei es wegen fehlenden Einbekenntnisses der Wahrheit oder weil das Verbrechen nicht als politisch motiviert anerkannt worden war; das fast völlige Nichterscheinen von höheren Entscheidungsträgern des Apartheitsregimes vor einer TRC und schließlich das Versäumnis der neuen Regierung durch eine Reichensteuer zu Milderung der großen ökonomischen Ungleichheit in der Gesellschaft beizutragen, was eine der Empfehlungen der TRC war.

Die Chancen

Und dennoch, dass man das denken und dass man das tatsächlich tun kann: auf schreckliche Geschehnisse, auf entsetzliche Taten nicht mit Bestrafung, sondern mit Versöhnung und mit dem Versuch einer Wiedergutmachung zu reagieren – das war mitreißend und überwältigend in der Wirkung. Nicht zuletzt, vielleicht sogar besonders deutlich, als ein Beispiel für die ganze Welt. An zahlreichen anderen Konfliktherden wurde Ähnliches ausprobiert – mit sehr wechselndem Erfolg. Aber die Idee war da, und Desmond Tutu war ein so überzeugender Vertreter dieser Idee. Ich erinnere mich, dass bei meinem Besuch in Kolumbien im Jahr 2005 und meiner Teilnahme an dem Kongress der Foundation for University Peace Initiatives meine Freunde dort von dem einige Monate zuvor stattgefundenen Besuch Desmond Tutus berichteten: wie sehr er alle, die mit ihm redeten, begeisterte und dass er die Mitglieder der Regierung einlud, nach Südafrika zu kommen, um zu sehen, wie man mit massiver, lange währender politischer Gewalt und den Wunden, die sie hinterließ, umgehen kann. (Nein, der Besuch fand nicht statt.)

Ein Vorbild

Was aber auch wichtig ist: Es gibt eine weltweite Bewegung für die Etablierung und Verbreitung einer "restorative justice" als einer alternativen Reaktion auf Unrechtserfahrungen. In Österreich ist das der schon recht lange bestehende "Tatausgleich" im Strafrecht. Hier geht es um "gewöhnliches" Unrecht, zumeist leichte und mittelschwere Körperverletzungen, die durch eine angeleitete Konfrontation von Opfer und Beschuldigtem, eine Vereinbarung über eine materielle oder immaterielle Wiedergutmachung und den Ausdruck und die Annahme einer Entschuldigung ("es tut mir leid") ausgeglichen und bereinigt werden sollen. Solche Praktiken, als Täter-Opfer-Ausgleich, als Familien-, Gemeinde- oder Sozialnetzkonferenzen gibt es in unterschiedlicher Ausprägung und unterschiedlicher Intensität und Häufigkeit mittlerweile (fast) überall. Die südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommissionen waren und bleiben dafür eine Inspiration, und Desmond Tutu wirkt weiter als Ermutigung. (Christa Pelikan, 31.12.2021)