Das US-Kapitol – wenige Tage nach dessen Erstürmung wurde das Parlament in eine Hochsicherheitszone umgewandelt.

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Die Menschen, die das Kapitol stürmten, waren nicht nur junge Männer.

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Vor allem Jacob Chansley (rechts) wurde zum Gesicht des randalierenden Mobs.

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Er war der Mann im Mittelpunkt: Jacob Chansley, einst Matrose der Kriegsmarine, eingesetzt auf einem Flugzeugträger, am 6. Jänner vor einem Jahr "der Schamane", auf den sich, sobald die ersten Aufnahmen publik wurden, alle Augen richteten. Auf dem Kopf eine Fellmütze mit Büffelhörnern, das Gesicht rot-weiß-blau bemalt, der tätowierte Oberkörper entblößt, in der Rechten ein Speer mit dem US-Sternenbanner – so stolzierte er durch das eroberte US-Parlament, als wäre es der Schauplatz einer Belagerung durch vorsintflutliche Vandalen. Auf dem Tisch von Mike Pence, der als Vizepräsident eine Sitzung des Senats geleitet hatte, hinterließ er eine handgeschriebene Notiz: "Es ist nur eine Frage der Zeit, Gerechtigkeit wird kommen."

Chansley war ohne Übertreibung das Gesicht der Revolte. Der QAnon-Jünger, an dem sich ablesen ließ, was für ein Haufen von Verschwörungsgläubigen zusammengekommen war an dem Tag, an dem ein aufgeputschter Mob für ein paar Stunden die Kontrolle über die Legislative einer der bewährtesten Demokratien der Welt an sich riss, um zu verhindern, dass der Kongress die Wahlniederlage Donald Trumps formell bestätigte.

"Der Schamane"

Im vergangenen November wurde Chansley am Federal District Court in Washington zu 41 Monaten Haft verurteilt. Im Laufe des Verfahrens zitierte er Jesus Christus, Mahatma Gandhi und Clarence Thomas, den konservativsten Richter am Obersten Gerichtshof der USA, und erklärte, er habe an jenem kalten Wintertag nicht etwa die Nation attackieren, sondern lediglich Gott zurück in den Senat bringen wollen. Es klang verworren, es passte zu den Bildern, die nach dem Angriff um die Welt gingen. "Der Schamane" als Inbegriff einer Horde gefährlicher Spinner.

Doch man geht wohl in die Irre, wollte man von dem Gehörnten auf den Rest der Meute schließen. So sehr Chansley an jenem traumatischen 6. Jänner 2021 optisch im Mittelpunkt stand, so sehr ist er zugleich ein spezieller Fall. Nicht nur, dass das Urteil gegen ihn relativ hart ausfiel, gemessen daran, dass der Mob bisher im Großen und Ganzen richterliche Milde erfährt, die Beobachter nur überraschen kann.

Untypisch ist Chansley vor allem, weil er um einiges jünger ist als das Gros derer, die ins Kapitol eindrangen. Der Ex-Matrose aus Arizona war damals 33, während das Durchschnittsalter der an der Attacke Beteiligten bei knapp 42 Jahren lag. Robert Pape, Politikprofessor an der Universität Chicago, Leiter des University of Chicago Project on Security and Threats (CPOST), charakterisiert die Rebellion denn auch als einen Aufstand von Menschen mit oft schon angegrautem Haar.

Psychogramm der Angreifer

Was waren das für Leute, die, angestachelt vom noch amtierenden Präsidenten, durch zerschlagene Fenster kletterten oder durch aufgebrochene Türen liefen, auf Polizisten einprügelten und Jagd auf Abgeordnete und Senatoren machten?

Pape hat versucht, der Sache auf den Grund zu gehen, jenseits aller medialen Schnellschüsse. Unterstützt durch sechs Kollegen und zwei Dutzend Studenten, hat er vieles gesichtet von dem, was sich finden ließ über die mehr als 700 Angreifer, gegen die bisher strafrechtlich ermittelt wurde. Gerichtsdokumente, Medienberichte, Amtspapiere – unzählige Informationsbruchstücke sollten zu einem Puzzle zusammengesetzt werden, um eine Art Gruppenprofil zu erstellen. Um einen gemeinsamen Nenner zu finden, etwas, was die Eindringlinge demografisch verband, was dazu beitragen konnte, ihre Motive zu erklären. Als Erstes, sagte der Wissenschafter dem Magazin "The Atlantic", sei ihm das untypische Alter der Invasoren aufgefallen.

Ökonomischer Aspekt

Pape befasst sich schon länger mit gewaltbereiten politischen Extremisten – nicht nur in den USA, auch in Europa und dem Nahen Osten. In aller Regel, hat er dabei gelernt, sind es junge Männer in den Zwanzigern und Dreißigern, die zu politisch motivierter Gewalt greifen. Dass am 6. Jänner 2021 die Generation der Vierzig- und Fünfzigjährigen eifrig mitmischte, doziert er, stehe im Widerspruch zu bis dahin gesammelten Erfahrungen.

Dann wäre da noch der ökonomische Aspekt. Gerade mal sieben Prozent der Aufrührer waren arbeitslos, ein vergleichsweise geringer Wert. In der Dekade zuvor, hat Papes Team anhand des Studiums von FBI-Akten herausgefunden, hatte jeder Vierte, den die amerikanische Bundespolizei wegen extremistischer Gewalt festnahm, zum Zeitpunkt der Tat keinen Job.

Nicht so am 6. Jänner 2021, weshalb von einer Revolte der wirtschaftlich Frustrierten, der Perspektivlosen keine Rede sein kann. Unter den Trump-Anhängern, die das Kapitol besetzten, waren Ärzte, Architekten, eine Fachkraft von Google, der Besitzer einer Werbeagentur, sogar ein Beamter des Außenministeriums. Etwa zur Hälfte handelte es sich um Berufsgruppen der Kategorie "white collar". Um Menschen also, die ihr Geld mit dem sinnbildlichen weißen Hemdkragen am Schreibtisch verdienen. Selbstständige und Kleinunternehmer waren reichlich vertreten, etliche konnten es sich leisten, die Tage zuvor in keineswegs billigen Hotels zu verbringen.

Berauscht von der Macht

Pape spricht von weißen Mittelschichtlern, die entweder ungehemmt auf Gewalt setzten oder aber, im Sog des Geschehens, berauscht von der eigenen Macht, jegliche Hemmungen abstreiften. Die lange verbreitete Auffassung, nach der es in der Hauptsache Splittergruppen beziehungsweise Einzeltäter sind, die sogenannten einsamen Wölfe, die für rechte Gewalt stehen, hält er angesichts der Realität des 6. Jänner 2021 für überholt.

Gerade deshalb klingt das Fazit, das er zieht, so alarmierend. "Dies ist tatsächlich eine neue, politisch gewaltbereite Massenbewegung. Dies ist kollektive politische Gewalt." Ähnliches habe sich zum letzten Mal in den 1920er-Jahren beobachten lassen, als der Ku-Klux-Klan, in der Endphase des US-Bürgerkriegs gegründet als Geheimbund rassistischer Südstaatler, eine Renaissance erlebte, die weit über seinen ursprünglichen Kern hinausging und sich nun, mit erweiterter Stoßrichtung, gegen Schwarze, Juden, Katholiken und Internationalisten gleichermaßen richtete.

Organisierte Milizen in Unterzahl

Nur: Die Extremisten des 6. Jänner waren in ihrer Mehrheit nicht Mitglieder einer extremistischen Gruppe. Von denen, die auf der Anklagebank landeten, hatten rund 85 Prozent keine Kontakte zu rechtsextremen Organisationen. Gewiss, es gab sie, die straff organisierten Milizen, deren Kombattanten detaillierte Gebäudepläne austauschten, einander in sozialen Medien aufforderten, Schusswaffen und Munition mitzubringen und darüber diskutierten, welche Politikerin, welchen Politiker man zuerst ins Visier nehmen soll. Filme von Handykameras dokumentieren, wie sie vorgingen. Da waren die "oath keepers", die sich in militärischer Formation, angetan mit kugelsicheren Westen, ihren Weg zu einem der Eingänge des Kapitols bahnten, zielstrebig, mitten durch dichtes Gewühl.

Da war Dominic Pezzola, ein ehemaliger Marine-Infanterist, Mitglied der rechtsnationalistischen "Proud Boys", der mit dem erbeuteten Schild eines Polizisten ein Fenster einschlug, durch das die Ersten dann in das Gebäude sprangen. Da war ein zweiter "Proud Boy", der an einer Außentreppe mit geübtem Blick eine Schwachstelle in den Verteidigungslinien der Bewacher erkannte – eine von vielen – und die Menge aufforderte, die Treppe zu nehmen.

15 Prozent der an der Attacke Beteiligten hatten beim Militär gedient. Das alles lässt auf gründliche Vorbereitung schließen, weniger auf eine spontane Aktion. Dennoch, schlussfolgert das CPOST-Team, sei die Wahrheit differenzierter – und damit erst recht ernüchternd.

Angst vor dem Wandel?

Was also war es, was Menschen, deren Namen in keinem Strafregister auftauchten, die oft gut verdienten, zum Mitmachen bewog? Auf der Suche nach dem gemeinsamen demografischen Nenner haben Robert Pape und seine Mitstreiter Unmengen biografischer Daten durchforstet, eingeschlossen die Gegenden, aus denen die Angreifer stammten. Ihr Befund liest sich, zumindest auf den ersten Blick, einigermaßen überraschend. Demnach waren Landkreise, in denen Trump die Wahl gewonnen hatte, gerade nicht diejenigen, die das Gros der Rebellierenden stellten. Mehr noch, je klarer Trump ein County gewonnen hatte, umso geringer die Wahrscheinlichkeit, dass jemand von dort das Parlament stürmte.

Die meisten kamen aus Gegenden, in denen Joe Biden das Duell ums Weiße Haus für sich entschieden hatte, wobei die CPOST-Wissenschafter ein offenbar entscheidendes Kriterium herausarbeiten konnten: Überall dort, wo der Anteil der Weißen an der Bevölkerung deutlich zurückging, auch wenn Weiße dort noch die Mehrheit bildeten, war es umso wahrscheinlicher, dass sich Trump-Getreue auf den Weg machten, um in der Hauptstadt Flagge zu zeigen. Zurückzuführen ist es auf eine systematische Hetzkampagne.

Trump und einige seiner Verbündeten in den Medien, allen voran Tucker Carlson, ein Moderator des Senders Fox News, hatten immer wieder die Angst vor dem "great replacement", dem "großen Austausch", geschürt: Menschen mit schwarzer und brauner Haut würden Weiße über kurz oder lang verdrängen. In dieser Skizze war Trump der Retter des Abendlands, der den Trend aufhalten und umkehren würde. Die Angst vor dem Wandel, vor dem Verlust des eigenen Mehrheitsstatus, das vor allem, glaubt Pape, trieb Männer mit grauem Haar zur Gewalt. (Frank Herrmann, 3.1.2022)