Der ehemalige griechische Finanzminister und Vorsitzender der Partei MeRA25, Yanis Varoufakis, warnt im Gastbeitrag vor der Machtfülle von Mark Zuckerbergs Metaversum.

Ist das die Evolution des Internets? Meta-Chef Mark Zuckerberg will eine virtuell erweiterte Realität schaffen.
Foto: EPA / Meta

Es war einmal im antiken Königreich Lydien, als ein Hirte namens Gyges einen magischen Ring fand, der ihn unsichtbar machte, wenn er ihn am Finger drehte. So gelangte Gyges ungesehen in den Königspalast, verführte die Königin, ermordete den König und setzte sich selbst als Herrscher ein. Wenn du einen solchen Ring oder ein anderes Gerät entdeckst, das dir exorbitante Macht verleiht, fragte der Philosoph Sokrates, wäre es dann klug, es zu benutzen, um zu tun oder zu bekommen, was du willst?

Neue Aktualität

Mark Zuckerbergs jüngste Ankündigung eines fabelhaften digitalen Metaversums verleiht Sokrates’ Antwort neue Aktualität: Die Menschen sollten auf übermäßige Macht verzichten und insbesondere auf jedes Gerät, das in der Lage ist, zu viele unserer Wünsche zu erfüllen.

Hatte Sokrates recht? Würden vernünftige Menschen auf den Ring verzichten? Sollten sie das?

Sokrates’ eigene Jünger waren nicht überzeugt davon. Platon berichtet, dass sie damit rechneten, dass fast alle wie Gyges der Versuchung erliegen würden. Aber könnte das daran liegen, dass Gyges’ Ring nicht mächtig und damit nicht furchterregend genug war? Könnte ein Gerät, das viel mächtiger ist als ein Ring, der uns lediglich unsichtbar macht, uns bei dem Gedanken, es zu benutzen, erschaudern lassen, wie es Sokrates empfahl? Wenn ja, was würde ein solches Gerät bewirken?

Der Ring ermöglichte es Gyges, Rivalen physisch zu überwinden, und beseitigte Beschränkungen, die seinen Wünschen im Wege standen, aber bei weitem nicht alle vorhandenen Hindernisse. Was wäre, wenn es ein Gerät gäbe – nennen wir es Freiheitsgerät –, das uns von allen Einschränkungen befreit, die uns daran hindern, zu tun, was wir wollen? Wie würde eine Existenz ohne Zwänge aussehen, wenn dieses Gerät aktiviert wäre?

Zeit-Zwang

Wir wären in der Lage, in den von talentierten Videospielentwicklern entworfenen Universen wie Vögel zu fliegen, im Handumdrehen in andere Galaxien zu reisen und einzigartige Kunststücke zu vollbringen. Aber das wäre nicht genug. Einer der härtesten Zwänge ist die Zeit: Sie zwingt uns, auf das Lesen eines Buches zu verzichten, während wir im Meer schwimmen oder uns ein Theaterstück ansehen. Um also alle Zwänge zu beseitigen, sollte unser fiktives Freiheitsgerät auch gleichzeitig unendliche Erfahrungen ermöglichen. Eine letzte Einschränkung, vielleicht die verblüffendste, bliebe jedoch bestehen: andere Menschen.

Wenn Jill mit Jack bergsteigen möchte, Jack sich aber nach einem romantischen Spaziergang am Strand sehnt, ist Jack Jills Zwang und umgekehrt. Um sie von den Zwängen zu befreien, sollte das Freiheitsgerät es Jill ermöglichen, mit einem willigen Jack bergsteigen zu gehen, während er mit einer Version ihres zufriedenen Ichs am Strand spazieren geht. Es würde uns alle in der gleichen virtuellen Welt leben, aber unsere Interaktionen unterschiedlich erleben lassen. Es würde nicht nur ein Universum der Glückseligkeit entstehen lassen, sondern tatsächlich ein Multiversum unendlicher, gleichzeitiger, sich überschneidender Vergnügungen. Mit anderen Worten: Es würde uns nicht nur Freiheit von Knappheit gewähren, sondern auch von dem, was andere Menschen uns antun, von uns erwarten oder von uns wollen. Da alle Zwänge wegfallen, alle Dilemmas aufgelöst und alle Kompromisse beseitigt sind, würde uns grenzenlose Zufriedenheit zur Verfügung stehen.

Lust auf mehr

Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, dass Zuckerberg bei dem Gedanken an ein solches Gerät ins Schwärmen gerät. Es wäre die ultimative Version des "Metaversums", in das er die mehr als zwei Milliarden Nutzer von Facebook eintauchen lassen will. Ich kann mir vorstellen, dass er uns einen Augenblick lang kostenlos ein Füllhorn von Vergnügungen probieren lässt, gerade so viel, dass wir Lust auf mehr bekommen, und dann würde er den Nutzern entsprechend Geld dafür berechnen. Jede Nanosekunde des Eintauchens in dieses Multiversum würde enorme multiple Vergnügungen hervorbringen – für die er uns wieder und wieder Geld berechnen würde. Schon bald würde die Kapitalisierung von Meta, dem Unternehmen, dem Facebook jetzt gehört, die aller anderen Unternehmen in den Schatten stellen.

Die Tatsache, dass unsere Technologen weit davon entfernt sind, das Freiheitsgerät zu erfinden, ist ebenso irrelevant wie die Tatsache, dass der Ring von Gyges ein Mythos war. Sokrates’ Frage, die sich auf diese beiden Science-Fiction-Geräte stützt, bleibt jedoch zentral: Ist es klug, exorbitante Macht über andere und über die Natur einzusetzen, um unsere Wünsche zu erfüllen?

Big Tech und die freie Marktwirtschaft halten nichts davon: Was ist verkehrt an der Freude? Warum sollte sich jemand gegen gleichzeitige Erfahrungen, die seine stärksten Sehnsüchte befriedigen, wehren? Was ist falsch daran, dass Zuckerberg Geld mit Menschen verdient, die ihn für die Befreiung von allen Zwängen bezahlen wollen?

"Ein erfolgreiches Leben erfordert die Fähigkeit, unseren Machthunger zu überwinden."

Die Antwort von Sokrates ist heute noch so treffend wie vor 2500 Jahren: Der Preis, den man für den Einsatz übermäßiger Macht zahlt, ist eine gestörte Seele – also radikales Unglücklichsein. Ob Sie nun ein Kunde sind, der die absolute Kontrolle über seine Sinne in einem künstlich erschaffenen Multiversum anstrebt, oder Zuckerberg, der danach strebt, die digitale Welt zu beherrschen: Ihr Unglück ist garantiert. Ein erfolgreiches Leben erfordert die Fähigkeit, unseren Machthunger zu überwinden. Es setzt die Einsicht voraus, dass Macht in den Händen von widersprüchlichen Wesen wie uns ein gefährliches, zweischneidiges Schwert ist.

Übermäßige Macht ist kontraproduktiv, ja sogar selbstzerstörerisch, denn wir sehnen uns nach der Interaktion mit anderen, die wir nicht kontrollieren können, obwohl wir uns danach sehnen, sie zu kontrollieren. Wenn andere etwas tun, was wir nicht wollen, fühlen wir uns enttäuscht, wütend oder traurig. Aber in dem Moment, in dem wir sie vollständig kontrollierten, würde uns ihre Zustimmung keine Freude bereiten, unser Selbstwertgefühl dadurch nicht gestärkt.

Neuer Techno-Feudalismus

Zu lernen, dass Kontrolle eine Illusion ist, ist schwer, besonders wenn wir bereit sind, fast alles zu opfern, jeden Preis zu zahlen, um andere zu kontrollieren. Diese Lektion müssen wir jedoch lernen, wenn wir verhindern wollen, dass andere – zum Beispiel Zuckerberg – uns kontrollieren.

Sokrates wollte uns davor warnen, der Versuchung des magischen Rings zu erliegen, indem er uns Gyges’ Unglück vor Augen hielt. Heute, wo uns ein Techno-Feudalismus und verschiedene immersive Metaversen bevorstehen, ist seine Warnung aktueller denn je. Wie im antiken Athen besteht unsere schwierige Aufgabe darin, den Demos zu stärken, ohne den Verlockungen der Macht zu erliegen. (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 3.1.2022)