Skandalautor Michel Houellebecq möchte am liebsten gar nicht mehr über "die Bösen" schreiben. Dieser Wunsch erfüllt sich aber in seinem achten Roman noch nicht.

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Alles war genaustens geregelt. In Frankreich sollte Michel Houellebecqs neuester Roman Anéantir am 7. Jänner erscheinen, auf Deutsch ein paar Tage später (11. 1.) mit dem Titel Vernichten. Der Pariser Verlag Flammarion konzipierte eine schlichte, geschmackvolle Hardcoverversion, der Houellebecq selber den Stempel aufdrückte: Der 65-jährige Literaturstar (Ausweitung der Kampfzone, Elementarteilchen, Unterwerfung, Serotonin) soll das legendäre "weiße" Beatles-Album als Ideenvorlage in eine Planungssitzung mitgebracht haben.

Interviewtermine wählte Houellebecq selbst – einen einzigen mit der Zeitung Le Monde, deren Vertreter der Autor in seinem funktionalen Schreibstudio im Pariser Chinatown des 13. Stadtbezirks empfing. Die übrigen Pariser Journalisten spekulierten, der achte Houellebecq-Roman drehe sich um die Hacker- und Piraten-Thematik.

Billig gescannte Raubkopie

Dann wurde in Paris zwei Tage vor Weihnachten bekannt, dass die Startauflage von 300.000 Stück gehackt worden sei. Im Umlauf ist seither eine billig gescannte Version, die nicht einmal die Qualität eines autorisierten PDFs aufweist, wie Flammarion anmerkte. Ähnlich erging es schon 2015 Houellebecqs Islamisierungsfiktion Unterwerfung, die am Tag des Attentats auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo erschienen war.

Flammarion hat zum Houellebecq-Leak beigetragen. Der renommierte Verlag stellte nicht weniger als 600 Presseleuten und Zugewandten das Buch zu. Die mit 30. Dezember angesetzte Sperrfrist wirkt angesichts dessen fast naiv. Französische Blätter zitierten da längst frohgemut aus dem Buch, und das Pariser Feiertagsspiel bestand darin, den PR-Plan für die Lancierung von Vernichten zu zerzausen, um nicht zu sagen: zu vernichten.

Einer der Happy Few frohlockte in den sozialen Medien: "Ich habe Covid, aber ich habe auch den letzten Houellebecq." Die ehemalige Gefährtin von Ex-Präsident François Hollande, Valérie Trierweiler, präsentierte auf Instagram das Buchcover vor einem Flammendekor, gepaart mit dem Hinweis: "730 Seiten am Kaminfeuer. Danke, Flammarion." Eine Stimme rechtfertigte sich fürs Ausplaudern so: "Wenn ich damit bis zum Ende der Sperrfrist warte, was bleibt mir dann zu sagen?" Sie war nicht die Einzige: "Ich lese den neuen Houellebecq jetzt, denn Ende Jänner wird es zu spät sein, sich darüber zu unterhalten."

"Stark", "traurig", "süperb"

Inhaltliche Debatten über das Buch sind in Frankreich bisher aber nicht ausgebrochen. Houellebecq, der bürgerlich Michel Thomas heißt, stellte in dem am Silvesterwochenende erschienenen Interview zwar klar, was die Pariser Medien inzwischen auch gemerkt haben: Vernichten dreht sich nur am Rande um Deep Fake und Computerhacken. Eigentlich erzähle er, so Houellebecq in Le Monde, die Geschichte des 47-jährigen Staatsbeamten Paul Raison und seiner ihm sexuell entfremdeten Frau Prudence. Pauls Vater liegt im Krankenhaus; die Geschichte der Annäherung des Paars angesichts des Todes hält Le Monde für "stark und traurig", Libération für "süperb".

Für politische Diskussionen gäbe es aber dennoch Anknüpfungspunkte. Das Thema Islam kommt nur am Rande vor. Doch das sympathische Paar Paul und Prudence wählt Le Pen. Die Kulisse dafür bildet die französische Präsidentschaftswahl – allerdings nicht oder nur indirekt die von April 2022. Sondern die von 2027 nach Ablauf der zweiten fünfjährigen Amtszeit eines Staatschefs, dessen Name nie fällt. Emmanuel Macron, um den es sich aber selbstverständlich handelt, kann nach zwei Mandaten nicht mehr antreten. Der Hauptkandidat ist nun ein gewisser Bruno Juge, den Le Monde mühelos als den heutigen Wirtschaftsminister Bruno Le Maire identifizierte.

Keine Bösen mehr

Die Pariser Elite weiß: Der Minister ist im wahren Leben mit Houellebecq befreundet. Er hatte 2011 ein paar Zollformalitäten bereinigt, als der Autor die sterbliche Hülle seines verstorbenen Hundes von Irland nach Frankreich zurückführen wollte. Während Macron in Vernichten als zynisch-narzisstische Figur geschildert wird, kommt der nicht minder technokratisch veranlagte Le Maire bei Houellebecq als fleißig, hochbegabt und ethisch sauber weg.

Auch das dürfte im aktuellen Präsidentschaftswahlkampf für Debatten sorgen – die Houellebecq gegenüber Le Monde aber auch nicht weiter anheizen wollte. "Nicht das Böse, sondern die Versuchung des Guten" bilde seinen literarischen Antrieb, gestand der Autor. "In meinen Büchern versteht man wie in Andersens Märchen sofort, wer die Bösen sind und wer die Guten. In Vernichten gibt es nur noch wenige Böse. Mein größter Erfolg wäre es, wenn ich einmal gar keine Bösen mehr beschreiben würde." (Stefan Brändle aus Paris, 4.1.2022)