Aus der Perspektive Österreichs ist der heroisch angelegte Widerstand gegen Brüssel verständlich. Kern- und Gaskraftwerken ein Ökolabel zu verpassen, um Investments für Privatanleger in diese Energieerzeugungsanlagen attraktiv zu machen, widerspricht der in Zwentendorf erworbenen DNA der selbsternannten Anti-Atom-Weltmacht im Herzen Europas.

Aus der Vogelperspektive betrachtet ist dieser Kampf gegen das Regelwerk der EU-Kommission, die Taxonomie, eher Folklore, weil aussichtslos und wohl als Besänftigung der eigenen Klientel gedacht. Und er ist scheinheilig. Denn der Import von Atomstrom, auf den Stromrechnungen verharmlosend als "Graustrom" ausgewiesen, stört die Österreicherinnen und Österreicher kaum (eine Minderheit von Grün-Bewegten ausgenommen) – solange der Strom aus der Steckdose kommt.

In der Sache schwingt in der Diskussion über die Taxonomie aber auch Unehrlichkeit mit. Denn es geht nicht um die EU-Energiestrategie oder den Kampf gegen neue Atommeiler – deren Errichtung wird sich in der relativ kurzen Übergangsfrist bis 2055 ohnehin nur in überschaubarem Maß ausgehen. Über ihren Energiemix entscheiden die Mitgliedsstaaten souverän. Es geht um die Lenkung von Finanzströmen in die Energiewende. Dieser Umstieg von fossilen auf erneuerbare Brennstoffe ist die monströse Herausforderung des unter "Fit for 55" aufgesetzten Green Deals der Europäischen Union.

Österreich und Deutschland kritisieren die EU-Pläne zur Atomenergie.
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Die Gefahr, dass tatsächlich Milliarden an privatem Geld in Atommeiler umgelenkt werden, scheint allein aufgrund der nicht ansatzweise gelösten Frage der Endlagerung des hochradioaktiven Mülls überschaubar. Bereits jetzt sind institutionelle Investoren mit Blick auf zu veröffentlichende Nachhaltigkeitsreports extrem zurückhaltend bei Atomprojekten. Banken und Versicherungen werden es sich dreimal überlegen, ihren Kunden Veranlagungsprodukte aufzuschwatzen, die der Finanzierung von AKWs dienen.

Zumal die Renditen alles andere als garantiert sind – im Gegenteil. Selbst mit Beteiligung staatlicher Unternehmen und AKW-Betreibern ist das Risiko für Investoren angesichts langer Bauzeiten und hoher Preiskonkurrenz durch erneuerbare Energien hoch. Das zeigen Beispiele in Großbritannien (Hinkley Point) und Finnland (Olkiluoto) eindrücklich. Hinzu kommt, dass es gar nicht einfach sein wird, ein AKW unter das grüne Deckmäntelchen zu bekommen. Denn es gibt Auflagen. Das dazugehörige Endlager für den AKW-Müll muss beispielsweise in Europa errichtet werden, es kann – salopp formuliert – nicht in einen Schurkenstaat in Übersee ausgelagert werden.

Auch die Entscheidung, Gas in die Taxonomie zu hieven, dürfte klimaschutztechnisch dem Pragmatismus geschuldet sein. Gasverbrennung verursacht weniger Treibhausgasemissionen als Kohle oder Öl und ist als Brückentechnologie unverzichtbar. Daraus einen Schaden nachzuweisen wird schwierig.

Das alles bedeutet natürlich nicht, dass der Protest gegen das "Greenwashing" der EU unsinnig ist. Es muss drin sein, was auf der Verpackung draufsteht, da liegt Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) richtig. Diesbezüglich sollte Österreich vor der eigenen Türe kehren, Stichwort Graustrom, Stichwort Bio-Gütesiegel. Um da Transparenz zu schaffen, braucht es weder die EU noch ihre Gerichte. (Luise Ungerboeck, 5.1.2022)