Eigentlich war die Impfpflicht beschlossene Sache, nun werden Bedenken laut.

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Die Omikron-Variante hat alles verändert. Nicht nur, was das dramatische Tempo, mit dem die Infektionszahlen steigen, und die Sorge um die kritische Infrastruktur angeht. Sondern vielleicht auch, was die Impfpflicht betrifft.

Gerald Gartlehner, Epidemiologe von der Donau-Uni Krems, war es, der im Interview mit der "Zeit im Bild" aufhorchen ließ: Er trat für ein Überdenken der Impfpflicht ein – also jener Maßnahme, zu der sich Österreich nach monatelangem Hin und Her schließlich durchgerungen hatte und hinter der nun alle Parteien außer der FPÖ stehen. Man müsse davon ausgehen, so sagte Gartlehner, dass man nach der Omikron-Welle ein Ausmaß an Immunität in der Bevölkerung haben werde, "wie wir es noch nie hatten". Das würde die Lage nun ändern.

Einzelne Erkrankungen reichen nicht

Wie ist das über den epidemiologischen Blickwinkel hinaus aus rechtlicher Sicht zu betrachten? Verfassungsjurist Peter Bußjäger sagt im Gespräch mit dem STANDARD, die Aussage Gartlehners sei jedenfalls "eine beachtliche Stellungnahme, die man nicht so ohne weiteres liegen lassen kann". Allerdings müsse man freilich prüfen, "wie weit diese Auffassung geteilt wird".

Denn vom juristischen Standpunkt aus betrachtet spielt da so einiges mit. Zuallererst, so sagt Bußjäger, sei die Impfpflicht nur dann gerechtfertigt, "wenn weiterhin schwere Wellen mit den entsprechenden Auswirkungen drohen". Und wären diese nicht mehr erwartbar, weil ein großer Teil der Menschen immun ist, "dann wäre die Impfpflicht verfassungsrechtlich nicht argumentierbar". Denn: "Vereinzelte schwere Erkrankungen rechtfertigen die Impfpflicht nicht."

Allerdings spielen da noch weitere Faktoren mit. So sagte etwa Virologin Dorothee von Laer kürzlich, man solle sich im Fall einer überstandenen Omikron-Infektion nicht auf ein Genesensein verlassen, denn das würde nicht vor der Delta-Variante schützen. Und: Diese Varianten würden künftig wohl nebeneinander kursieren. Sollte dem so sein, sagt Bußjäger, dann wäre das wieder ein Argument für die Impfpflicht.

Rahmengesetz als Kompromiss

Dazu kommt noch die Frage nach der Wirksamkeit des Impfstoffs. Eine Impfpflicht, so wurde schon in der Vergangenheit ausführlich diskutiert, kann und darf es nur dann geben, wenn der Impfstoff auch vor den aktuell kursierenden Varianten schützt. "Da muss der Jurist den Mediziner fragen: Reicht es, wenn man gegen die neue Variante den Booster von vorgestern einsetzt?", so formuliert das Bußjäger. Doch momentan scheint es, als würde die Impfung wirken: Für geboosterte Menschen, so hieß es am Mittwoch vonseiten des Krisenstabs Gecko, liege die Schutzwirkung gegen eine Hospitalisierung beinahe bei 90 Prozent.

Rendi-Wagner weiterhin für Impfpflicht

Klar für die Impfpflicht spricht sich hingegen weiterhin SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner aus. Nach dem heutigen Wissenstand stehe sie nach wie vor dazu, sagt sie Mittwochabend im "ZIB2"-Interview. Dass die Impfpflicht wegen der Omikron-Welle obsolet sei, weil diese eine "höhere Durchseuchung" bringe, würde bedeuten "dass man das Virus durchrauschen lässt, mit hohen Erkrankungszahlen, vollen Spitälern und vielen Toten", so Rendi-Wagner. "Diese Strategie ist falsch und medizinisch und ethisch nicht vertretbar." Ein "alleiniges Hoffen auf Durchseuchung" sei ein "riskantes Glücksspiel mit einem hohen Einsatz". Gesichert sei hingegen, dass impfen besser schützt, als nicht impfen.

ORF

Den vorliegenden Gesetzesentwurf bezeichnete die SPÖ-Chefin als "brauchbar". Dennoch müssten die zahlreichen Stellungnahmen, die bisher eingelangt sind, ernst genommen und wenn nötig der Entwurf überarbeitet werden. Sie habe sich daher auch von Anfang an dafür ausgesprochen, dass Verfassungsjuristen eingebunden werden.

Zwischenlösung möglich

Denkbar wäre ob all dieser offenen Fragen aber auch so etwas wie eine Zwischenlösung: Die Regierung könnte das Gesetz zur Impfpflicht, das ja Anfang Februar in Kraft treten soll und momentan in Begutachtung ist, nur als Rahmengesetz beschließen. Dazu bräuchte es zwar die eine oder andere Novellierung, aber das Grundgerüst der Impfpflicht wäre damit verfügbar. Der Gesundheitsminister könnte dann durch Verordnungen festlegen, wann sie tatsächlich eingeführt wird. Das hätte den Vorteil, dass der Gesetzgebungsprozess nicht erneut bei null starten müsste, und "den Charme, dass es eine Kompromissvariante wäre", sagt Bußjäger. (Gabriele Scherndl, 5.1.2022)

Update um 22:27 Uhr: Rendi-Wagner-Zitate aus "ZiB2" wurden eingefügt