Aktuelle Erkenntnisse über den Hirntod könnten neue Behandlungsstrategien bei Herzkreislaufstillstand und Schlaganfall liefern.
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Was genau sich während des Todes im Gehirn abspielt, ist in vielen Details nach wie vor ungeklärt. Selbst der Hirntod als Voraussetzung für die Organspende ist nicht unumstritten. Lange Zeit waren Tierversuche die einzige verlässliche Möglichkeit, einen genauen Blick auf die zerebralen Vorgänge während des Sterbens zu werfen – aus nachvollziehbaren Gründen: Immerhin sollten Mediziner den Tod verhindern und nicht etwa zuschauen, wenn er eintritt. Ergänzt wurden diese Informationen aus Tieruntersuchungen allenfalls durch Berichte reanimierter Patienten, die später ihre Nahtoderfahrungen preisgaben.

Auf den "Energiesparmodus" folgt der "Tsunami"

Was man anhand der Versuchstiere herausgefunden hatte, war Folgendes: Ist das Gehirn von akutem Sauerstoffmangel betroffen, verursacht etwa durch einen Herzstillstand, der den Blutfluss stoppt, scheint es binnen etwa zehn Minuten im Großhirn zu gewaltigen Schäden zu kommen, die sich wellenartig durch das Gewebe fortbewegen. Den Anfang macht dabei eine Art "Energiesparmodus", in den das Gehirn innerhalb von 20 bis 40 Sekunden nach Eintritt des Sauerstoffmangels versetzt wird. Danach ist es gleichsam elektrisch inaktiv und die Neuronen stellen ihre Kommunikation untereinander vollständig ein.

Sind einige Minuten später auch die letzten Energiereserven aufgebraucht, beginnt der endgültige Untergang: Das energiehungrige Ionen- und Spannungsgefälle zwischen dem Inneren der Nervenzellen und ihrer Umgebung bricht zusammen. Dieses als "Spreading Depolarization" oder auch bildhaft als "Tsunami" bezeichnete dramatische Ereignis geschieht in Form einer massiven elektrochemischen Entladungswelle, die sich über die Großhirnrinde und andere Hirnregionen ausbreitet und augenblicklich irreversible Hirnschäden verursachen soll.

"Todeswelle" beim Menschen

Das dachte man zumindest, ehe vor drei Jahren ein internationales Forscherteam eine wegweisende Studie veröffentlichte. Den Wissenschaftern um den Neurologen Jens Dreier von der Charité – Universitätsmedizin Berlin ist es erstmals gelungen, die mutmaßliche "Todeswelle" im Gehirn eines Menschen anhand der zerebralen elektrischen Aktivität nachzuweisen. Sie beobachteten diese aus den Tierexperimenten bekannten Prozesse bei neun Patienten mit schweren Gehirnverletzungen, die aufgrund einer Do-not-resuscitate-Anordnung im Falle des Todes aus medizinischen Gründen nicht mehr reanimiert werden sollten.

Wie Dreier und seine Kollegen zu ihrer Überraschung feststellen konnten und in ihrer Arbeit in den "Annals of Neurology" berichteten, erwies sich der Tsunami des Hirntodes als doch nicht so irreversibel wie ursprünglich angenommen. Es zeigte sich vielmehr, dass die fatale Welle bis zu einem bestimmten Zeitpunkt gestoppt werden kann und sich die Nervenzellen vollständig erholen können, sofern die Durchblutung und damit die Sauerstoffversorgung rechtzeitig wieder einsetzt. Damit konnten die Wissenschafter erstmals nachweisen, dass die terminale Spreading Depolarization bei Mensch und Tier vergleichbar ist.

Elektroden unter der Hirnhaut

"Die Spreading Depolarisation ist ohne Anzeichen von Zellschädigung vollständig reversibel, wenn die oxidative Versorgung vor dem sogenannten Commitment Point, definiert als der Zeitpunkt, an dem Neuronen unter anhaltender Depolarisation zu sterben beginnen, wiederhergestellt wird", so die Autoren. Gemessen wird eine solche Spreading Depolarisation mithilfe von durch Neurochirurgen unter der harten Hirnhaut implantierten Elektroden, was entsprechende systematische Studien bei Patienten nur sehr schwer möglich macht.

Die Grafik zeigt die Ausbreitung der Spreading Depolarisation (SD) bei einer Patientin, die an einer Subarachnoidalblutung, einer speziellen Form des Schlaganfalles, litt.
Grafik: Dreier et al.

Nun beschreiben Dreier und andere Forscher in zwei demnächst im Fachjournal "Brain" veröffentlichten Studien erstmals die vollständige elektrophysiologische Signatur des menschlichen Hirntodes, der sich vom Sterben nach einem Kreislaufstillstand unterscheidet. Unter anderem werden darin zwei Fälle einer typischen Hirndruckkrise infolge von Subarachnoidalblutungen beschrieben, gefolgt vom Hirntod.

"Extremer Anstieg des Hirndrucks kann dazu führen, dass das Gehirn stirbt, während der Blutkreislauf weiterläuft", erklärte Dreier gegenüber "Newsweek". "Allerdings müssen Atmung und Kreislauf unter diesen Bedingungen auf der Intensivstation künstlich aufrechterhalten werden. Ohne diese Unterstützung stoppt die Atmung – und der Kreislauf bricht kurz darauf aufgrund von Sauerstoffmangel zusammen. Dieser Hirntod ist demnach eine Form des Sterbens, die nur auf der Intensivstation vorkommt."

Wellen vor Tod oder Genesung

Die sich ausbreitenden Depolarisationen seien mit einem enormen Wassereinstrom in die Neuronen verbunden, wodurch sie anschwellen. Dies sei ein kritischer Moment, so Dreier: "Die Ausbreitung der Depolarisation markiert den Beginn toxischer Zellveränderungen, die schließlich zum Zelltod führen. Sie ist aber kein Signal für den Zelltod an sich, da die Depolarisation – bis zu einem gewissen Grad – reversibel ist. "Viele meinen, dies sei die 'Todeswelle', aber das stimmt so nicht. Es ist eine Welle, die entweder durchaus zum Zelltod oder aber auch zur Genesung führen kann."

Die Spreading Depolarisation tritt nicht nur bei Sterbenden auf, sondern kann auch die charakteristische elektrophysiologische Signatur von Patienten mit Schlaganfällen und vor allem Migräneattacken sein. Forscher entdeckten sogar einen Zusammenhang zwischen den sogenannten Aura-Phänomenen, die Migräneattacken begleiten, und Nahtoderfahrungen.

Video: Spreading Depolarizations.
Moberg Research

Mögliche Rettung vor dem Tod

Wie bereits die Studie von 2018 zeigte, bleiben die medizinischen Möglichkeiten bei Schlaganfällen, Hirnblutungen und ähnlichen Krankheitsbildern begrenzt. Patienten können bei der beobachteten Spreading Depolarisation oft nicht mehr gerettet werden.

Obwohl die Wiederherstellung des Kreislaufs klarerweise das Hauptziel bei der Notfallbehandlung ist, glauben die Forscher, dass die neuen Einblicke in die Reaktion des Gehirns auf Energiemangel dazu beitragen könnten, die für die Wiederbelebung verfügbare Zeit vorherzusagen, ehe es zu einem irreversiblen Gehirnschaden kommt.

Aber nicht nur das: Das neue Wissen über die neurologischen Mechanismen des Sterbens könnte künftig auch auf Behandlungsstrategien Einfluss nehmen. Neuroprotektive Maßnahmen, die während der Spreading Depolarization ergriffen werden, könnten so die Überlebenszeit verlängern. (Thomas Bergmayr, 7.1.2022)