Bild nicht mehr verfügbar.

Dämmerung für die US-Demokratie.

Foto: AP / Carolyn Kaster

Wer vor zehn Jahren die Rede gelesen hätte, die Joe Biden am Donnerstag hielt, hätte es nicht geglaubt. Keine Beschwörung der Einheit, keine Bekräftigung der "starken Union", kein Verweis auf die Sonderstellung der USA als Leuchtturm der Nationen. Stattdessen gab es zum Jahrestag des Kapitolsturms dunkle Warnungen vor Spaltung, vor Gewalt als Mittel der Politik und ja: dem Ende der Demokratie. Es stimmt, die Beteuerungen klangen auch früher oft übertrieben oder gar hohl, sie standen im Gegensatz zu Unterdrückung von Minderheiten und fehlender Sorge um Arme.

Und doch ist es offensichtlich: In derart existenzieller Gefahr wie heute, 245 Jahre nach seinem Beginn, war das demokratische US-Experiment noch selten. Das zeigen die Zahlen: Nicht nur zwei Drittel der Republikaner meinten in einer Umfrage vom Sommer, Donald Trump sei um seinen Wahlsieg betrogen worden, sondern auch 29 Prozent der Unabhängigen.

Die "große Lüge" von der gestohlenen Wahl, die Trump unablässig erzählt, verfängt. Nicht seine Beliebtheitswerte sanken unter Republikanern nach dem 6. Jänner, sondern die von Vizepräsident Mike Pence und Fraktionsführer Mitch McConnell, die sich geweigert hatten, den letzten Schritt zum Wahlbetrug mitzugehen. Ein Jahr nach dem Putschversuch sind die Republikaner auf Kurs, bei den Midterm-Wahlen im November Mehrheiten zu holen. Man würde Bidens Sorge gern Hoffnung entgegenhalten. Aber man muss sich fragen, welche. (Manuel Escher, 6.1.2021)