Im Zentrum von Almaty liegen am Donnerstag die ausgebrannten Reste eines Autos. Die Proteste gingen trotz Polizeigewalt aber weiter.

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Ausgebranntes Feuerwehrfahrzeug vor der ehemaligen Präsidentenresidenz in Almaty.

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Lange ließ sich Russland nicht bitten. Am Mittwoch hatte der kasachische Präsident Kassym-Jomart Tokajew um die Hilfe der von Russland geführten Militärallianz OVKS gebeten. Am Donnerstag waren die Truppen schon im Land – unter ihnen auch russische Fallschirmjäger. Seit Tagen hatten in dem ehemaligen Sowjetland tausende Menschen protestiert, zunehmend auch gewaltsam. Spätestens seit der Nacht auf Mittwoch werden die Proteste brutal niedergeschlagen. Die OVKS soll nach russischer Lesart nun für Ruhe sorgen.

Sie ist aber ein Moskauer Fuß in der Tür zu einem Land von zentraler geopolitischer Bedeutung. Schon bisher galt Kasachstan als eine Art schlafender Riese: Flächenmäßig ist es das neuntgrößte Land der Erde, bei der Bevölkerung mit 19 Millionen aber eher Regionalliga.

In den Weltnachrichten ist das Land selten präsent, politisch war die Regierung bisher immer ein loyaler, wenn auch souverän-selbstbewusster Alliierter Russlands. Dies ist der scheinbar schon ewigen Herrschaft von Nursultan Nasarbajew zu verdanken, der vom Sowjet-Parteichef fugenlos zum Elbasy, dem "Führer der Nation", aufstieg – Personenkult inklusive.

Trügerisches Versprechen der Stabilität

Dank Nasarbajew und seines ebenso verzweigten wie verfilzten Herrschaftsclans bekam das Land 30 Jahre Kontinuität. Im Vergleich zu den Nachbarn Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan und dem notorisch turbulenten Kirgisistan herrschte eine ungewöhnliche Stabilität und Modernität, garniert mit etwas bürgerlichen Freiheiten, gewürzt mit einer Prise Demokratie.

Stetig sprudelnde Einnahmen aus dem Export von Öl und Gas haben dem Land seit der Jahrtausendwende einen sichtbaren Wohlstandsschub spendiert. Kasachstan ist kein Armenhaus. Aber die aktuelle Protestwelle beruht darauf, dass von dem wachsenden Wohlstand beim einfachen Volk wenig ankam.

Das Nasarbajew-Regime gönnte sich in der mehrfach umbenannten neuen Hauptstadt – nach Aqmola und Astana heißt sie inzwischen zu Ehren ihres Schöpfers Nur-Sultan – ein Prestigeprojekt mit allem orientalischen Pomp. Ansonsten verteilte man alle ergiebigen Pfründen in der engeren Verwandtschaft.

Russlands Hinterhof

Für Russland ist der südliche Nachbar geografisch der Schlüssel zur Aufrechterhaltung des schon von den Zaren gewonnenen und von den Sowjets ererbten Einflusses im bis zum Hindukusch reichenden zentralasiatischen "Hinterhof": Ohne ein verbündetes Kasachstan wäre Moskau von dieser Region abgeschnitten und die Rolle als dortige Ordnungsmacht schnell verloren.

Eine freundlich gesinnte Regierung ist zudem für die Weltraummacht Russland unabdingbar: Als administrative russische Exklave liegt dort das Kosmodrom Baikonur. Das macht Kasachstan strategisch im Ansatz mit der Krim vergleichbar. Der Erhalt der dortigen russischen Flottenbasen war 2014 das Hauptmotiv für den Griff nach der Halbinsel, als die Ukraine nach Westen driftete. Und auch wegen der weltgrößten Uranvorkommen möchte Russland Kasachstan nicht aus seinem Orbit verlieren.

Zugleich stellt Kasachstan als zwar mehrheitlich islamisches, aber betont weltliches Land einen Puffer gegen die in Zentralasien vorhandenen islamistischen Tendenzen dar. Terroristen, die Anschläge in Russland verübten, kamen nicht nur aus dem Kaukasus, sondern immer wieder auch aus Kasachstans südlichen Nachbarstaaten. Kasachen gelten für Moskau in dieser Beziehung bisher als eher unverdächtig. Deshalb ist der Kreml wohl mehr als alle anderen Mächte daran interessiert, dass Kasachstan ein explizit säkularer Staat bleibt, in dem der Islam nicht mehr ist als einfach Religion.

Fremdgesteuerte Banden?

Das von Moskau dominierte Militärbündnis OVKS interveniert jetzt formell mit "Friedenstruppen", mobilisiert wegen "des Eindringens von fremdgesteuerten Banden". Zwar hat in jüngster Vergangenheit niemand deren Invasion bemerkt. Doch musste behauptet werden, dass der brandschatzende Mob irgendwie von äußeren Mächten gelenkt, instruiert oder zumindest motiviert ist, damit erstmals in der Geschichte der OVKS (dem auch Belarus, Tadschikistan, Armenien und Kirgisistan angehören) der "Bündnisfall" ausgerufen werden konnte.

Kasachstan hatte bei aller Loyalität eigentlich immer versucht, möglichst autonom von Moskau aufzutreten. Jetzt hat das Land doch Russlands Truppen eingeladen. Viele im Land nehmen nun an: Sie werden nicht mehr weggehen.

Zahlreiche Interessen

Je nach politischer Phobie lassen sich die angeblichen Strippenzieher von außen in Washington, London, Kiew, Ankara, Kabul, Peking oder gar Moskau verorten. Denn zweifellos kreuzen sich in dem riesigen Binnenland im Herzen Eurasiens mit Russlands Interessen auch die der halben Welt: Die EU-Staaten sind der größte Abnehmer der üppigen Öl- und Gasexporte Kasachstans. Die Türkei begreift sich als potenzielle Führungsmacht aller Turkvölker – zuletzt aktiv bewiesen im Bergkarabach-Konflikt – und will in Zentralasien zumindest ihren kulturell-moralischen Einfluss nutzen.

Für China ist der westliche Nachbar ein aufnahmefähiger Markt, attraktiver Investitionsstandort und für seine ökonomischen Expansionspläne – Stichwort: Neue Seidenstraße – die natürliche Brücke in Richtung Westen. Peking ist es zudem wichtig, dass die Kasachen die Nöte ihrer Turk-Nachbarn hinter der Grenze, der unterdrückten und verfolgten Uiguren in der Provinz Xinjiang, weiterhin offiziell ignorieren.

Und es ist nicht einmal auszuschließen, dass Hinterzimmer-Strategen in den USA oder der Ukraine in der Tat über einen Kollaps des typischen postsowjetischen Elite-Herrschaftssystems in Kasachstan erfreut wären – und auf Dominoeffekte in Putins engerem Machtbereich hoffen. (Lothar Deeg aus St. Petersburg, 6.1.2022)