Mischung aus Makro- und Mikrohistorie: David Abulafia.

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Am Anfang war nicht das Wort. Am Anfang war die Furcht. Die Furcht vor der Weite. Die Furcht vor der Tiefe. Die Furcht vor der endlosen Dunkelheit, der Nacht in den tiefen, schaurigen Abgründen des Meeres. Der erste Eindruck, so der 1798 geborene französische Historiker Jules Michelet, der 1874 in Hyères am Mittelmeer starb, in seinem Anfang 1861 erschienenen Band DasMeer, den man vom Meer empfange, sei Furcht. Der zweite: Schrecken.

Michelet: "Für alle auf dem Land lebenden Wesen ist das Wasser das nicht zu atmende, das erstickende Element schlechthin. Eine zeitlose, schicksalhafte Schranke, die unwiderruflich die beiden Welten voneinander scheidet. Verwundern wir uns nicht, wenn die gewaltige Wassermasse, welche man das Meer heißt, fremd und düster in ihrer nicht zu erschließenden Tiefe, der menschlichen Einbildungskraft immer beängstigend erschien."

Die Meere der Welt sind aber mehr als nur Angst. 90 Prozent des globalen Güterverkehrs wird über die Meere abgewickelt – mit Folgen für den gesamten Globus, wenn wichtige Wasserrouten wie jüngst der Suezkanal längere Zeit blockiert sind. Drei Viertel der Erdoberfläche sind von Meer und Wasser bedeckt. Rund 80 Prozent der Weltbevölkerung leben unmittelbar am Meer oder in dessen Hinterland. Was für die nächste Generation Konsequenzen haben wird, für Bangladesch etwa, das gerade einmal 20 Meter über dem Meeresspiegel liegt, die Hauptstadt Dhaka nur sechs Meter.

Geschichte und Wissenschaftsgeschichte haben die multiplen, in ihrer Vielfältigkeit nahezu nicht überschau- noch bündelbaren Aspekte der Thalassologie, der historischen Meereswissenschaft, seit rund 20 Jahren immer detaillierter ausgeleuchtet. Handels- und Ökonomiegeschichte ebenso wie Sozial- und Mentalitätshistorie, Piraterie und Globalisierung, Umwelthistorie – Stichwort: Tsunamis, Klimawandel, Meereserwärmung – gleichermaßen wie Kolonialismus und imperialistische Expansion, Konflikte, Kollisionen ebenso wie Repräsentation und Darstellungspolitiken in der Kunst.

Was nun der englische Historiker und ausgewiesene Mittelmeer-Experte David Abulafia mit Das unendliche Meer vorlegt, ist im Wortsinn ein Lebenswerk, es ist sein Opus maximum. Üblicherweise wird heutzutage für ein solches Vorhaben, die gesamte Weltgeschichte aller Ozeane des Planeten zu umreißen, ein vielköpfiges Team von Wissenschaftern und Forscherinnen rekrutiert, die, eine Dekade lang von Institutionen der öffentlichen Hand alimentiert, am Ende etwas Unlesbares an entlegener Stelle ohne Widerhall publizieren.

Abulafia, der bis zu seiner Emeritierung 2017 Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte an der englischen University of Cambridge war, legt das Gegenteil vor – ein großartiges, splendid lesbares, großartiges Monumentalwerk, eine elegante Mischung von Makro- und Mikrohistorie, von langfristigen Rahmenbedingungen und Prozessen und jähen Brüchen. 2020 wurde ihm hierfür zu Recht in Großbritannien der angesehene Wolfson History Prize für das beste historische Werk des Jahres verliehen.

Kleines und Großes

Indem er zahllose Vignetten und detaillierte Miniaturdarstellungen einstreut, entsteht ein imposanter Bogen, der 60 Jahrtausende überwölbt und von den Fahrten des chinesischen Admirals Zheng He bis zum präglobalisierten Handel muslimischer und jüdischer Kaufleute, Sklaverei und Migration reicht, von Entdeckern und Schiffbrüchigen zu japanischen Piraten, Wikingern, Portugiesen, von den Aborigines in Australien und neuzeitlichen Abenteurern wie Thor Heyerdahl bis zu EU-Fischereikommissaren und UN-Klimaberichten.

Abulafia beugt sich über die "Binnenverhältnisse" der Meere und beschreibt dann deren Verbindungen. Er beginnt mit dem Pazifik, siedlungsmäßig der älteste Ozean – dessen Humangeschichte setzte vor rund 60.000 Jahren ein –, es folgen der Indische Ozean, der Atlantik, der Arktische und der Südliche Ozean, am Rande noch das Mittelmeer, über das Abulafia vor zehn Jahren ein Standardwerk schrieb.

Das Meer wurde kartografiert, durch menschliche Ratio bezwungen, von dieser kujoniert und ausgiebig gequält. Und doch gibt es ungebrochen die anziehende, rollende Unterströmung, das Faszinosum des Fluiden. Jules Michelet vor 160 Jahren: "Die Ausrottung einer einzigen Art kann einen fatalen Eingriff in die Ordnung, in die Harmonie des Ganzen darstellen."

Das Meer erschien ihm anfangs trist und traurig überwältigend: "Ich empfand eine tiefe Trauer, als ich eines Tages am Meeresufer bei Le Havre meine kleine Tochter (sechs Jahre) Steine auf das Meer werfen sah; das Meer seinerseits warf ihr seine Wellen entgegen. Dieser Kampf zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen, dessen Ausgang so unfehlbar ist, entlockte mir Tränen."

Am Meer, dichtete Erich Fried einmal, "soll man aufhören zu sollen und nichts mehr wollen nur Meer. Nur Meer." Und dieses Buch. (ALBUM, Alexander Kluy, 8.1.2022)