Rotterdam, Hamburg, Zürich: Ute Schneider, Partnerin im Büro Kees Christiaanse Architects + Planners (KCAP), hat internationale Erfahrung als Stadtplanerin gesammelt. Seit Herbst 2021 ist sie Professorin für Städtebau an der TU Wien – in einer Stadt, deren Stadtplanung für viele unübersichtlich und bürokratisch wirkt. Im Dialog mit Planungsdirektor Thomas Madreiter erklärt sie, was Inselurbanismus ist, warum Wohnbau alleine keine Stadt macht, und wie sich Städtebau und Architektur unterscheiden.

STANDARD: Ute Schneider, Sie sind seit Oktober Professorin an der TU Wien. Was ist Ihr erster Eindruck von Stadtentwicklungsgebieten wie der Seestadt, dem Sonnwendviertel und dem Nordbahnhof?

Schneider: Das Modell der Seestadt mit ihrer eigenen Entwicklungsgesellschaft kenne ich aus Amsterdam, Rotterdam und Hamburg. Das ist gut, denn es garantiert Kontinuität und ermöglicht konstante Aushandlungsprozesse. Die Stadtentwicklungsgebiete ohne diese Steuerung scheinen mir eher von den Bedürfnissen der Bauträger getrieben. Alle drei Gebiete weisen eine sehr starke Trennung von Wohnen und Arbeiten auf, was meist zulasten der Lebendigkeit des Quartiers geht. Grundsätzlich spürt man, dass es hier zwischen Raumplanung, Stadtplanung und Architektur einen Missing Link zu geben scheint, und zwar den Städtebau.

"Der Wohnbau wird in Wien sehr monofunktional gedacht. Das ist nie gut. Wir müssen in radikalen Nutzungsmischungen denken." Ute Schneider, Professorin für Städtebau an der TU Wien.
Foto: Boudewijn Bollmann

STANDARD: Dietmar Steiner, der verstorbene frühere Direktor des AzW, klagte immer wieder, dass der Städtebau als Disziplin in Wien nicht verstanden wird. Hat er recht?

Madreiter: Es stimmt, dass in Wien oft missverstanden wird, was die Aufgabe von Städtebau ist. Auch von Architekten. Johannes Tovatts Masterplan für die Seestadt wurde von ihnen am Anfang fast zerrissen. Bei einer Veranstaltung klagte eine Wiener Architektin, dass die Flächenwidmung ihr gar keinen Spielraum ließe – und es gab Standing Ovations. Dann trat ein stadtbekannter Planungskritiker auf, bezog sich auf die ersten gebauten Ergebnisse der Seestadt und fragte, wer so etwas zugelassen habe. Wieder Standing Ovations, von denselben Leuten. Da muss ich schon fragen: Wie hättet ihr es denn gern? Entweder, ich ertrage es, dass da etwas entsteht, das nicht hundert Mal abgewogen wurde. Oder ich mache die Stadtplanung für die letzte Türschnalle verantwortlich. Das hat dann aber nichts mehr mit der Definition von Städtebau zu tun.

STANDARD: Was ist denn nun die Definition von Städtebau, und wie unterscheidet er sich von Stadtplanung und Raumplanung?

Ute Schneider: Die Begriffe und Disziplinen sind nicht leicht zu trennen, weil Stadtplanung grundsätzlich multidisziplinär ist. Der bauliche Aspekt ist nur einer von vielen. Landschafts- und Verkehrsplanung sind ebenso relevant wie sozioökonomische Aspekte. Wir bewegen uns in unserer Arbeit durch diese Disziplinen und Maßstäbe hindurch. Ich habe in zwei Städten gelebt, deren Innenstädte nach dem Krieg platt waren, Stuttgart und Rotterdam. Sie haben beide 50 Jahre gebraucht, um zu einer Urbanität zurückzufinden. Man sieht: Tabula Rasa ist kein gutes Rezept. Mir ist es wichtig, das Gewachsene anzuschauen und zu verstehen, um es verändern oder ergänzen zu können. Man muss zuerst begreifen, wie in einer Stadt oder Region das Zusammenleben funktioniert.

STANDARD: Es scheint auch kaum bekannt, wer Städtebauer eigentlich sind und was sie tun. Die meisten denken an jemanden wie Baron Haussmann, der im 19. Jahrhundert die Pariser Boulevards bis zur Fassadengliederung durchplante.

Madreiter: In Wien denkt man Stadt traditionell stark aus einem Architekturverständnis her. Zwischen Architektur und Städtebau gibt es aber fundamentale Unterschiede. Architektur hat die Planung von Objekten zum Ziel, die irgendwann fertig sind. Es sollte das, was Architekt Rüdiger Lainer das "Demiurgenverständnis" genannt hat, diesen Schöpfergott, der eine Idee hat, die dann genau so umgesetzt wird, in der modernen Stadtplanung nicht geben. Bei Stadtplanung geht es um Strukturen und Prozesse. Städtebau ist ein bisschen wie Kindererziehung. Ich brauche klare Regeln und Rahmenbedingungen, aber muss auch loslassen und vertrauen können.

"Städtebau ist ein bisschen wie Kindererziehung. Ich brauche klare Regeln, aber muss auch loslassen und vertrauen können." Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien.
Foto: Christian Fürthner, MA 18

Schneider: Meine Haltung ist geprägt durch eine internationale Praxis, die je nach kulturellem Kontext unterschiedliche Regeln verlangt. In den Niederlanden funktioniert das Gleichgewicht von Kontrolle und Laissez-faire sehr gut. Man tut allerdings gut daran, Gestaltungsregeln vorzugeben, damit eine gewisse Kohärenz entsteht. In der Schweiz dagegen muss man Vielfalt initiieren, damit das Ergebnis nicht zu homogen wird. Es geht grundsätzlich darum, eine Struktur zu planen, innerhalb der eine Stadt wachsen kann. Das heißt: Selbst, wenn wir Städtebauer und Architekten zugleich sind, denken wir bei beim Planen einer Stadt nicht in erster Linie an das konkrete Gebäude, sondern an das Dazwischen, an den Stadtraum, den die zukünftigen Bauten definieren werden. Guter Städtebau muss schlechte Architektur vertragen können. Was nicht heißt, dass man schlechte Architektur verteidigen muss.

STANDARD: In Wien steht die Stadtplanung auf sehr vielen Füßen: Magistratsabteilungen, Planungsdirektor, Baudirektion, Stadtentwicklungskommission, Bezirke, Wiener Linien. Oft scheint es dadurch zu erheblichen Reibungsverlusten zu kommen. Wie ist Ihr Blick von außen auf Wien?

Schneider: Da kenne ich mich momentan noch nicht gut genug aus, um mir ein Urteil zu erlauben, aber mir fällt auf, dass es in der Wiener Planungsszene zwar sehr viel KnowHow gibt, aber ich mich manchmal frage: Warum kommt so wenig davon auf die Straße? Ich vermute, es hat mit einer zu starken Politisierung zu tun oder mit den Planungsinstrumenten.

Madreiter: Ich sehe die Breite der Wiener Planungsverwaltung nicht negativ. Wir sind froh darüber, denn wir haben eine hohe Kompetenz im Haus. Wir müssen nur die Prozesse so organisieren, dass es nicht zu schwerfällig wird. Corona hat uns gezeigt, dass Wien es schafft, schnell und effizient zu organisieren.

STANDARD: Beim Althan-Quartier am Franz-Josefs-Bahnhof beschloss die Stadtentwicklungskommission 2017 ein städtebauliches Leitbild. Die Architekten investierten viel Zeit und Geld in einen Wettbewerb. Dann intervenierte der Bezirk, der Investor zog sich zurück, jetzt wird nicht einmal das Siegerprojekt gebaut. Hätte man das nicht besser machen können?

Madreiter: Da muss ich jetzt etwas provokant werden. Planung im Städtebau ist etwas anderes, als wenn sich eine Firma eine Zentrale baut. Ich lasse mich auf einen dialogischen Prozess mit ungewissem Ausgang ein. Wer diese Widersprüchlichkeit nicht erträgt, ist eventuell fehl am Platz auf diesem Spielfeld. Beim Franz-Josefs-Bahnhof gab es immer eine skeptische Haltung des Bezirks, insbesondere, was den Anteil an gefördertem Wohnbau betrifft. Eine Veränderung kommt nur dann, wenn sie von Stadt und Investor als Verbesserung wahrgenommen wird. Das war hier letztlich nicht so. Das sehe ich aber nicht tragisch. Wir wussten als Stadt immer, dass der Eigentümer eine Rückfallvariante ziehen kann, nämlich im Rahmen der ursprünglichen Bebauungsbestimmungen zu bauen, und so ist es gekommen.

Die Seestadt Aspern.
Foto: Christian Fürthner, MA 18

Schneider: Ich kenne das Projekt zu wenig, um dazu etwas zu sagen, aber was mir generell auffällt in Wien, ist ein Trend zum Inselurbanismus.

STANDARD: Was ist das genau?

Schneider: Es gibt eine Parzelle, auf der man plant, aber die Einbettung ins größere Umfeld wird kaum berücksichtigt. Dieses Problem gibt es auch andernorts, scheint hier aber recht ausgeprägt. Das hat vielleicht auch mit den Widmungsverfahren zu tun.

Madreiter: Ja, der Inselurbanismus ist eine echte Krankheit in Wien. Aber das Bewusstsein des Problems könnte schon ein Schritt sein. Und es gibt auch genügend Gegenbeispiele für eine subtile Integration.

Schneider: Ja die gibt es. Spannend wäre es, dies in zukünftige Prozesse zu integrieren. Ein Beispiel, das mir noch am Herzen liegt, ist der Nordwestbahnhof. Dort basiert die Planung auf einem Wettbewerb von 2008, da sind schon ein paar Jahre ins Land gegangen.

STANDARD: Was würde man heute anders machen?

Schneider: Dort gibt es eine tragfähige, gewachsene Infrastruktur, die man integrieren könnte, anstatt sie, wie es europaweit lange Usus war, komplett zurückzubauen. Wohnen, Arbeiten, Konsumation und Entsorgung müssen in Zukunft näher zusammen gedacht werden, in einem radikal gemischt genutzten polyzentrischen System.

STANDARD: Die Stadt hat ein Fachkonzept Produktive Stadt entwickelt, um gemischte Nutzungen anzuregen, aber die Stadtplanung wird in Wien traditionell vom Wohnbau dominiert. Das Thema Arbeiten wird hier kaum diskutiert.

Madreiter: Den Gedanken von Ute Schneider zum Nordwestbahnhof finde ich sehr richtig. Mit dem Fachkonzept Produktive Stadt haben wir sogenannte "rosa Zonen" eingeführt. Das sind Betriebsbaugebiete, in denen wir Nutzungsmischung forcieren.

Schneider: Der Wohnbau ist wichtig, aber er wird in Wien sehr monofunktional gedacht. Das ist nie gut. Wir müssen in radikalen Nutzungsmischungen denken, und das ist aufgrund emissionsarmer Produktionsmethoden auch möglich. Das Fachkonzept Produktive Stadt ist ein guter Ansatz, aber noch sehr zaghaft. Es braucht noch mehr rosa Zonen, zum Beispiel in der Seestadt oder an anderen heute infrastrukturell genutzten Arealen, die sich bestens als produktive Stadtbausteine eignen.

Madreiter: Das wird auch mir noch zu wenig gelebt, aber wir sind erst am Anfang. Die Seestadt ist ein struktureller Glücksfall für uns, weil die Betreibergesellschaft ausgezeichnet arbeitet, und weil sich das Areal im Besitz von Bund und Stadt befunden hat, was uns in der Entwicklung einen breiteren wirtschaftlichen Rahmen erlaubt. Die Stadtplanung und der Wohnfonds Wien sind gerade dabei, die Erkenntnisse aus der Seestadt auf die gesamte Stadt zu übertragen. Wir haben gelernt, dass man nicht in einer Phase null alles fixieren kann, und dann wird alles gut. Man braucht eine begleitende Qualitätssicherung über einen langen Zeitraum.

Schneider: Das ist gut zu hören. Kontinuität und Ko-Kreation sind notwendig wie Kontrolle und Laissez-faire. Wir müssen flexible Rahmenwerke definieren, die anpassungsfähig bleiben für sich verändernde Randbedingungen. Das zeigen uns Pandemie und Klimakrise sehr eindeutig auf. Bei Bedarf müssen auch frühere Entscheidungen revidiert werden, wenn sie aktuellen Bedürfnissen im Wege stehen. Und wir müssen Stadt und Region als Gesamtsystem anschauen. Eine Stadt ohne Hinterland existiert nicht.

STANDARD: Leider planen Wien und Niederösterreich völlig unabhängig nebeneinander her. Wie kann man das ändern und die gesamte Stadtregion ins Blickfeld holen?

Madreiter: Wir haben in Österreich einen ausgeprägten Föderalismus mit neun verschiedenen Raumordnungsgesetzen. Im Gegensatz zu anderen Staaten gibt es hier keine übergeordnete Instanz der räumlichen Planung. Die Region Wien hat aber ein enormes Potenzial, und wir haben gute Strukturen der Kooperation mit Niederösterreich. Es geht aber nicht darum, dass die eine Seite der anderen Seite sagt, was sie gerne hätte, sondern darum, gemeinsame Visionen zu entwickeln. Wenn wir in Wien einen Anteil des Individualverkehrs von gut 25 Prozent haben, haben wir beim einpendelnden Verkehr einen Anteil von 75 bis 80 Prozent. Wir müssen uns überlegen, wie wir die Region anders organisieren können.

Schneider: Man bräuchte einen Plan der Metropolregion, oder besser gesagt Stadtregion, der sowohl die gut erschlossenen Zonen aufzeigt, die verdichtet werden können, als auch Zonen, die freizuhalten sind aufgrund der Qualität der Böden, maßgeblicher Frischluftschneisen oder ökologischer Funktionen. Einen Plan der polyzentrischen Region. Weg vom Pendeln, hin zu einer Stadt der kurzen Wege.

Madreiter: Der Hebel dabei sind vor allem die Siedlungsstrukturen, mehr noch als die Mobilitätsachsen. Beispiel Donaufeld: Da wird vonseiten der Bürgerinitiativen mit dem Bodenschutz gegen die Bebauung argumentiert. Aber wenn ich dort eine Entwicklung verhindere, findet sie nicht nur woanders statt, sondern auf der zehnfachen Fläche an der Peripherie. Das ist eine Horrorvision. Wie müssen an verdichteten Standorten kompakt bauen.

Schneider: Das ist definitiv eine Horrorvision. Aber auch innerhalb eines föderalistischen Systems kann und sollte es landesweite Ziele zur Raumentwicklung geben. Dies ist notwendig, um die Klimaziele zu erreichen, den Bodenverbrauch zu minimieren und damit auch die landschaftliche Schönheit zu bewahren. Die dichte, gemischt genutzte produktive Stadt ist und bleibt die effizienteste Lösung dafür. (Maik Novotny, 9.1.2022)