Die Idee hinter Intuitivem Essen ist, bei Hunger wieder auf sein Bauchgefühl zu hören. "Gute" und "böse" Lebensmittel gibt es nicht mehr.

Foto: Alexandra Coelho

Intuitives Essen kommt rosarot und babyblau daher. Also: nicht die Speisen selbst. Doch wer auf Instagram oder Facebook auf einen Post oder eine Anzeige zu "Intuitive Eating" klickt, dessen Feed wird fortan von Beiträgen auf pastellfarbenem Hintergrund geflutet, die einen gesunden und mühelosen Weg zum "Wohlfühlgewicht" versprechen. Ohne Diät, ohne Verzicht. Man müsse nur endlich wieder auf sein Bauchgefühl hören, während man den Kühlschrank öffnet. Dann würden, so die unterschwellig oder offen kommunizierte Botschaft, die Kilos ganz von allein purzeln.

Das Gros der Posts führt zu Profilen professioneller Coaches, deren Instagram-Nicknames sehr wahrscheinlich Wörter wie "healthy" oder "selflove" enthalten, in der Beschreibung weist sich die Person als Ernährungsberater aus. Und meist führt ein Link direkt zum kostenpflichtigen "Programm", in dem das "Intuitive Essen" gelehrt wird. Wer dafür zahlt, hofft wohl insgeheim, danach auszusehen wie die sichtlich erschlankten Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf den Vorher-nachher-Bildern auf dem Instagram-Profil des Coaches. Aber kann Intuitives Essen tatsächlich als Diät funktionieren?

Kampf den Diäten

Der Begriff Intuitives Essen wurde von den US-amerikanischen Diätologinnen Elyse Resch und Evelyn Tribole geprägt. Sie hatten im Zuge ihrer Arbeit festgestellt, dass herkömmliche Diäten bei ihren Klientinnen und Klienten allzu oft eher Schaden als Nutzen mit sich brachten und die Gesundheit und Zufriedenheit mehr darunter litten, als dass langfristige Erfoge erzielt wurden. Die beiden Ernährungsexpertinnen gehen in ihrem 1995 veröffentlichten Bestseller Intuitive Eating davon aus, dass jeder Körper ein natürliches Sollgewicht hat. Dieses kann durch Diäten kurzfristig oder durch eine psychische Erkrankung wie eine Essstörung auch langfristig manipuliert werden. Wann immer ein Mensch allerdings zu einer Lebensweise zurückkehrt, in der er seinem Körper ausreichend Energie zuführt, wird dieser über kurz oder lang wieder das Sollgewicht erreichen – vielleicht etwas mehr, da der Körper Reserven für weitere Hungerphasen bildet.

Resch und Tribole definierten in ihrem Buch deshalb den Ansatz des Intuitiven Essens, der auf zehn Grundsätzen beruht. Dazu zählen etwa die Ablehnung der Diätmentalität, das empfundene Hungergefühl ernst zu nehmen, seinen Körper zu respektieren und Essen nicht mehr in gute und böse Lebensmittel zu unterteilen. Außerdem wird "emotionalem Essen" der Kampf angesagt. Der Hintergedanke ist, sich die Chips nicht mehr erst zu verkneifen, sie dann verschämt im Geheimen zu essen, um sich dann mit Selbstkasteiung oder Joggen für die vermeintliche Sünde zu bestrafen. In den meisten Fällen, so die These, werden Chips, wenn sie nicht mehr "verboten" sind, weniger interessant – Sport aber, wenn er keine Pflicht mehr ist, plötzlich umso mehr. Allerdings wurde das Konzept von Beginn an missinterpretiert. So heißt Reschs und Triboles Buch beispielsweise in der deutschen Übersetzung Intuitiv Abnehmen."

Intuitiv Essen wird leider immer stärker von der Diätindustrie besetzt", kritisiert Isabel Bersenkowitsch. Wer auf ihrer Website landet, könnte sie fälschlich mit den bereits beschriebenen Instagram-Ernährungscoaches in einen Topf werfen. Die Seite ist in hellen, freundlichen Farben aufbereitet und bewirbt ein "Food Freedom Programm". Doch die Diätologin beschäftigt sich seit mehreren Jahren mit dem Konzept des Intuitiven Essens und stellt eines klar: Gewicht spielt in ihrer Beratung keine Rolle. Die Ernährungstherapeutin spricht sich stattdessen für einen Paradigmenwechsel aus, wenn es um Diätkultur geht. So bezeichnet sie ihr Programm unter anderem als feministisch: "Den eigenen Körper verändern zu wollen wird speziell für Frauen schnell zu einem Vollzeitjob. Und lenkt uns von wichtigen Dingen ab, wie etwa dem Kampf für Gleichberechtigung oder Respekt einzufordern."

Gesundheit neu definiert

Außerdem führe Mangelernährung durch Diäten zu Veränderungen im Körper und könne bei schlanken aber auch übergewichtigen Menschen nachweislich gesundheitsschädigende Folgen haben.Wenn es um die medizinischen Risiken von Adipositas geht, wie die erhöhte Gefahr für Bluthochdruck, Herzinfarkte und Schlaganfälle, gibt Bersenkowitsch zu bedenken: "Wir leben in einer fettfeindlichen Gesellschaft. Mittlerweile ist bekannt, dass viele Erkrankungen, die mit Mehrgewicht in Verbindung gebracht werden, auch durch Stress ausgelöst werden. Dieser kann durch Diskriminierungserfahrungen verstärkt werden – die für dicke Menschen alltäglich sind." Erwiesenermaßen ungesund ist zudem auch das sogenannte Weight-Cycling. Damit gemeint ist die ständige Gewichtsab- und -zunahme, etwa durch Diäten. Auch Diätologin Edburg Edlinger arbeitet wie Isabel Bersenkowitsch mit Klientinnen und Klienten, die mitunter eine lange Leidensgeschichte gescheiterter Abnehmversuche hinter sich haben. Sie bestätigt: "Es nicht für jeden Menschen genetisch vorgesehen, normalgewichtig zu sein. Es gibt Personen, die einen sehr hohen Energieverbrauch haben und untergewichtig sind und ebenso verzweifelt versuchen, die ‚Norm‘ zu erreichen, die für sie nicht erreichbar ist. Und dasselbe gibt es auch in die gegensätzliche Richtung." Nach gründlicher Ernährungs- und Lebensstilanamnese versuche sie dann herausfinden, ob und in welchem Ausmaß eine Gewichtsabnahme (oder -zunahme) möglich sind.

Körpergewicht spielt für Bersenkowitsch in ihrer Beratung aber eben dezidiert keine Rolle. Das Gewicht wird nicht überprüft, es gehe stattdessen vordergründig darum, mit dem Diätteufelskreis zu brechen. Intuitiv essen zu lernen heißt, emotionales Essen zu erkennen und Gefühlen wie Stress mit anderen Strategien zu begegnen. Dafür arbeitet Bersenkowitsch mit Fachleuten anderer Gebiete zusammen, etwa einer Psychologin, die selbst unter Essstörungen litt, einer Soziologin und einer mehrgewichtigen Fitnesstrainerin.Sie soll den Teilnehmenden vermitteln, dass Sport auch Spaß machen kann und nicht nur qualvolles Kalorienverbrennen ist. Das Ziel lautet, Frieden mit dem Essen und seinem Körper zu schließen – und die Verbindung zwischen Ernährung und Sport und dem Wunsch, seinen Körper zu verändern, zu durchbrechen.

Etikettenschwindel

Wer sich für diesen Prozess professionelle Hilfe suchen möchte, sollte allerdings aufpassen. Wenn Programme mit Intuitivem Essen werben und im gleichen Atemzug große Abnehmerfolge prophezeien oder Diätmentalität propagieren, rät Bersenkowitsch, besser die Finger davon zu lassen. Dasselbe gilt für Coaches ohne einschlägige Ausbildung, die Heilung von psychischen Krankheiten wie Bulimie oder Binge-Eating-Disorder (wiederkehrenden Essanfällen) versprechen. Denn auch wenn Intuitives Essen bei der Therapie von Personen mit Essstörungen immer häufiger zum Einsatz kommt, kann es eine Psychotherapie nicht ersetzen. Essen mag zwar Leib und Seele zusammenhalten – im Alleingang heilen kann es aber weder noch. (Antonia Rauth, 8.1.2022)