Die EU-Kommission gefährdet den überfälligen Wandel der Wirtschaft und die Pariser Klimaziele, sagt der WWF-Experte Jakob Mayr im Gastkommentar. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Florian Aigner: Kernkraftwerk und Apfelstrudel.

Illustration: Fatih Aydogdu

Ausgerechnet zu Silvester, während bei vielen die Sektkorken knallten, ließ die EU-Kommission eine politische Bombe platzen: Kurz vor Mitternacht veröffentlichte sie einen Gesetzesvorschlag, der sowohl Atomkraft als auch fossiles Gas unter bestimmten Bedingungen für "nachhaltig" erklärt. Die eigene Führungsrolle im Klimaschutz? Die vielen gegenteiligen Empfehlungen der eigenen Expertinnen- und Expertengruppe? Die Warnungen der Wissenschaft? Alles plötzlich Schall und Rauch, Opfer kurzsichtiger nationaler Egoismen und einer lobbygesteuerten Politik, die echte Klima- und Umweltpolitik verweigert, sobald es konkret wird.

Versprochen hatte die Kommission etwas völlig anderes: nämlich ambitionierte wissenschaftsbasierte Kriterien für grüne Investments. Geworden ist es legalisiertes Greenwashing, das ein an sich sinnvolles Instrument konterkariert, wenn die Taxonomie auf den letzten Metern nicht doch noch verbessert wird. Denn der sündteure Ausbau der Atomkraft ist weder nachhaltig noch zukunftsfähig und jedenfalls unvereinbar mit den EU-Umweltzielen. Erdgas gehört weltweit zu den größten Klimakillern, in Österreich ist es für 20 Prozent aller Treibhausgasemissionen verantwortlich.

Schäbiger Deal

Das grüne Label für Erdgas widerspricht auch der Folgenabschätzung der EU-Kommission, wonach die Union ihren Gesamtverbrauch an fossilem Gas bis 2030 um etwa 30 Prozent senken muss, um ihre Klimaziele zu erreichen. Auch die Internationale Energieagentur stellt fest, dass die Elektrizität bis 2040 weltweit zu 100 Prozent emissionsfrei sein muss. Um dies zu gewährleisten, müssen innerhalb des gleichen Zeitrahmens Gaskraftwerke ersetzt und nicht ausgebaut werden.

Um zu verstehen, wie sogar Erdgas ein grünes Mäntelchen erhalten konnte, muss man nach Frankreich blicken. Dort befindet sich Präsident Emmanuel Macron in einem Wahlkampf mit ungewissem Ausgang. Das Versprechen einer Art "Renaissance der Atomnation" zählt zu den "Leuchtturmprojekten", die seine Wiederwahl garantieren sollen. Für die notwendige Mehrheit in Europa gab es einen Abtausch hinter den Kulissen, indem das vom atomkraftskeptischen Deutschland forcierte Erdgas ebenfalls als nachhaltig eingestuft wurde. Die zum Teil wohl künstlich von Russland hochgehaltenen Gaspreise taten ihr Übriges, und der schäbige Deal war in trockenen Tüchern. Andere Mitgliedsstaaten beteiligten sich daran oder unterschätzten die Sprengkraft des Themas.

Fehlende Allianzen

Österreichs wechselnde Bundeskanzler fanden zwar stets große Worte gegen die Atomkraft, schmiedeten aber bis zuletzt keine tragfähigen Allianzen im Rat – und stellten sich schon gar nicht gegen das profitgesteuerte Schönfärben von Erdgas, wie es auch in Österreich von vielen Lobbys betrieben wird.

Als vorläufiges Fazit der Causa bleibt: Mit der Unterstützung des deutsch-französischen Kuhhandels hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Glaubwürdigkeit ihres Green Deal extrem beschädigt. Denn diese Art der Taxonomie sendet nicht nur völlig falsche Signale an den weltweiten Finanzmarkt, sondern hätte wohl auch verheerende Auswirkungen im Beihilfenrecht. Sowohl die Entwickler von klimaschädlichen Gasprojekten als auch die Atomkraftbranche können sich auf dieser Basis in Zukunft leichter einen vermeintlich grünen Anstrich geben und bei Finanzierungen aus dem Vollen schöpfen.

Versprechen gebrochen

Zig Milliarden Euro an öffentlichen und privaten Mitteln drohen in die falsche Richtung zu fließen, anstatt eine echte Energiewende zu unterstützen. Dafür bräuchte es noch sehr viel mehr und vor allem völlig andere Maßnahmen: Von einer Energiesparoffensive über eine klimagerechte CO2-Bepreisung und den Abbau umweltschädlicher Subventionen bis hin zum naturverträglichen Ausbau erneuerbarer Energien wie der Photovoltaik gibt es enorm viel zu tun – zum Vorteil der Wirtschaft und des Arbeitsmarktes, zum Wohle unserer Gesundheit und des Klimas.

Hingegen gefährdet das geplante Greenwashing von Atomkraft und Erdgas nicht nur das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Klimavertrags, sondern bricht auch das zentrale Versprechen der Taxonomie. Anstatt eine klimafitte, ökologisch investierende Wirtschaft zu unterstützen, stellen die Verantwortlichen neue ungedeckte Schecks auf Kosten einer sicheren Zukunft aus. (Jakob Mayr, 8.1.2022)