Der blau beleuchtete Arc de Triomphe anlässlich der französischen EU-Ratspräsidentschaft in Paris am 1. Januar 2022.

Foto: AFP/Julien de Rosa

Wer in der Weihnachtsruhe und zu Silvester gehofft hat, dass sich die Krisenlage in Europa irgendwie auflockern werde, wird schon nach wenigen Tagen im neuen Jahr ernüchtert sein. Das Coronavirus und andere Bedrohungen haben Regierungen und Bürger in der EU fest im Griff.

Aber die Staaten bleiben im dritten Pandemiejahr aufgescheucht wie Hühner, die gackernd und wild über den Hof rennen, ohne Strategie. Jeder macht etwas anderes. Von echter Gemeinsamkeit in der Gemeinschaft ist wenig zu sehen.

Krieg auf europäischem Boden

Nicht so direkt spürbar, aber fast noch gruseliger sind die Aussichten, dass es auf europäischem Boden bald wieder Krieg gibt. Zumindest sieht es so aus, als spiele Russlands Präsident Wladimir Putin ungerührt mit militärischen Lösungen in der Ukraine. Der Aufmarsch von Truppen an der Ostgrenze geht weiter.

Europäische Regierungen mögen darüber noch so sehr jammern: Sie werden von Moskau nicht einmal zu ernsthaften Gesprächen eingeladen. Die gibt es nur mit den USA, die Putin ernst nimmt. Diese Lektion sollten die Europäer seit der russischen Intervention 2014 in der Ukraine eigentlich gelernt haben: Wir sind Zuschauer der Weltgeschichte.

Arge Dämpfer für die Wirtschaft

Und nun kommt auch noch die Gefahr dazu, dass der für 2022 erhoffte Wirtschaftsaufschwung arge Dämpfer bekommt. Ausgelöst von Energiepreisen geht der allgemeine Preisauftrieb weiter. "Mehr als die Hälfte der Inflation kommt vom Energiesektor", seufzte ein Finanzminister der Eurozone besorgt.

Lässt sich das nicht stoppen, sind steigende Zinsen unausweichlich. Das können einige Länder, deren Haushalte durch Corona-Hilfen mehr denn je verschuldet sind, nicht brauchen. Weil einige Mitgliedsländer stark von russischem Gas abhängen, ist das umso kniffliger. All das zeigt neben den globalen Herausforderungen wie Digitalisierung und Migrationsdruck von Jahr zu Jahr mehr, was fehlt: Die Europäische Union mit 27 Mitgliedern redet zwar oft davon, dass sie ein "global player" sein will, aber sie ist es nicht.

Krönung der Union

Dazu müsste man erst eine echte "politische Union" schaffen, Außen- und Militärpolitik inklusive. Eine solche war als Krönung der Wirtschafts- und Währungsunion mit dem Euro vor dreißig Jahren auch geplant. Die Mühen der Euroeinführung ab Anfang 1999, vor allem aber die Probleme, die durch die breite Osterweiterung um zwölf Länder 2004 und 2007 entstanden sind, haben das verhindert. 2016 kam dann der Brexit.

Nun sind die Briten als Bremser weg. Ungarn und Polen werden überschätzt. Es wäre hoch an der Zeit, dass Frankreich und Deutschland, die nach 1945 mit ihren Initiativen die Gemeinschaft stets inspiriert und angetrieben haben, wieder aktiv werden. 2022 sollte und könnte ein Wendejahr für Europa werden, um die lange "Polykrise" zu überwinden.

Programm als Steilvorlage

Erstmals seit langem hat eine Regierung im EU-Vorsitz – die französische – mit einem ehrgeizigen Programm dazu eine Steilvorlage geliefert. Wenn Präsident Emmanuel Macron im Mai als Präsident wiedergewählt wird, sich die deutsche Regierung mit Kanzler Olaf Scholz als starke proeuropäische Kraft etabliert, dann ginge ein Fenster auf, um Europa auf eine neue Basis zu stellen.

Es blieben bis zu den Europawahlen im Mai 2024 zwei Jahre Zeit, neue Verträge aufzusetzen, Pläne für ein starkes Europa in der Welt zu machen. Das braucht Mut und Tatkraft. Paris und Berlin sollten das zeigen – für uns alle. (Thomas Mayer, 10.1.2022)