Im Nachwort zum Roman schreibt Michel Houellebecq: "Für mich ist es Zeit aufzuhören." Man kann vorerst nur rätseln, ob er seine Karriere damit beendet.

Foto: Philippe Matsas / Flammarion

Michel Houellebecq legt die Handlung seiner Romane gerne in der Zukunft. Das 2015 erschienene Unterwerfung, in dem Houellebecq einen muslimischen französischen Präsidenten imaginiert, der die Grande Nation zum Gottesstaat umbaut, spielt etwa 2022. So ist es, wie wir heute sehen, nicht gekommen. Aber darum geht es dem als Provokateur verschrienen Autor ja nicht. Er macht keine Zukunftsprognosen, sondern denkt Tendenzen seiner Gegenwart radikal weiter. Houellebecqs achter, heute erscheinender und mit 618 Seiten dickster Roman Vernichten spielt wieder in der näheren Zukunft. Er setzt Ende 2026 ein und zieht sich über ein Jahr.

Hauptfigur ist Paul Raison, persönlicher Berater des französischen Wirtschaftsministers Bruno Juge. Spät wird ihm aufgehen, dass sein Werdegang keinem hehreren Ziel folgte als dem Ehrgeiz, an Status zu gewinnen; trotzdem ist er nicht unsympathisch. Mit seiner Frau bewohnt er eine teure Maisonettewohnung an einem Park, die Bilanz der Ehe ist hingegen miserabel: Seit zehn Jahren haben er und Prudence nicht miteinander geschlafen, seit einem Jahr sind sie sich dank zweier Schlafzimmer nicht einmal mehr begegnet. Auch die Kühlschrankfächer sind getrennt. Prudence hat sich dem Veganismus und der Naturreligion Wicca zugewandt. Die Entfremdung endet, als Pauls Vater nach einem Blutgerinnsel ins Koma fällt. Das bietet Houellebecq Gelegenheit, den Pflegenotstand zu einem Kern des Buches zu machen. (Man hat vom Thema lebenswertes Leben zuletzt übrigens auch in Houellebecqs Essayband Ein bisschen schlechter gelesen.) Vom Eindruck der Endlichkeit gerührt, trifft sich das Paar jedenfalls wieder im Wohnzimmer, plaudert. Dann kann Paul Prudence wieder auf den Po greifen, ohne dass sie erstarrt.

"Eine Schlampe von Schwägerin"

Auch andere Beziehungen sind für den Autor interessant, etwa die von Pauls sehr religiöser Schwester Cécile zu deren arbeitslosem Mann oder die des kleinen Bruders Aurélien zu dessen egoistischer Frau, "einer Schlampe von Schwägerin". Besonders witzig: Sie hat als Samenspender für den gemeinsamen Sohn einen Schwarzen ausgesucht, damit klar ist, dass Aurélien nicht der Vater sein kann.

Das Frauenbild wird manche wieder aufregen. Es gibt Einlassungen zur Prostitution, gerne werden die Körper von Frauen (oft Mitte 20 und in kurzen Röcken) bewertet. Will man aber einschätzen, wie gleichberechtigt Paul insgesamt eingestellt ist, hilft seine Lieblingsstellung weiter: die "Seitenlage", weil sie es ihm "ermöglichte, in Prudence einzudringen und sie dabei gleichzeitig in den Armen zu halten; von allen Sexstellungen war es in Pauls Augen die gefühlvollste, menschlichste". Bereits in Serotonin (2019) hatte Houellebecq, damals frisch verheiratet, sanfter über Frauen geschrieben. Wieder halten sie mit Aufopferung alles zusammen: "Frauen besitzen eine fast unglaubliche Tapferkeit." Doch kommt Houellebecq sich nicht aus: "Prudence jedenfalls ging es sichtlich besser, seit er sie jeden Tag fickte, ihre Bewegungen waren lebhafter."

Dank an den HNO-Arzt des Autors

Vielleicht liegt es am Alter, dass Houellebecq (65) sich in Vernichten so um Krankheit, das Sterben und die 2027 weitverbreitete Euthanasie sorgt. Im Nachwort dankt der Autor denn auch seinem HNO-Arzt, den er regelmäßig konsultiert, denn "angesichts des Lebens, das ich geführt habe, wäre ich sicherlich dafür prädestiniert gewesen, an HNO-Krebs zu erkranken". Tatsächlich trifft dieses Schicksal später Paul. Ist dieses Buch ein Purgatorium?

Politisch brodelt es eher nebenbei. Der Präsidentschaftswahlkampf 2027 nimmt zwar an Seiten gemessen einigen Platz ein, so wagemutig wie in Unterwerfung ist Houellebecq mit seinem Zukunftsentwurf aber nicht. Der Amtsinhaber (als Emmanuel Macron zu erkennen) will einen politisch desinteressierten, aber vom Pomp des Amtes begeisterten TV-Talkmaster als Platzhalter installieren. Bruno, Pauls Chef, soll jenem als Vize zur Seite stehen. Dem mit Houellebecq befreundeten Wirtschaftsminister Bruno Le Maire nachempfunden, ist er ein Konservativer, wie man ihn sich als Österreicher gerade wünscht: Für Privattermine mit Milliardären hat er kein offenes Ohr. Doch hat seine Politik blinde Flecken: Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Mittelklasse hat sich aufgelöst, strukturschwache Regionen sind "auf das Niveau eines afrikanischen Landes abgesunken". Ein Jungtalent vom Rassemblement National gewinnt angesichts dessen mit seinem Lächeln scharenweise Wähler wie Pauls Schwester und Schwager.

Viele Gründe für Anschläge

Zugleich passieren Anschläge, von denen lange ungewiss ist, wer dahintersteht: Globalisierungsgegner? Ökofundamentalisten? Letztlich ist das nicht entscheidend. Die Bandbreite der Optionen zeigt, dass die Probleme des Westens von innen kommen. Es geht um Hacker, Deep-Fake-Videos, gezielte manipulative Ansprache von Internetnutzern. Zudem ist die junge Generation asexuell und mutlos. Nach 400 Seiten obliegt es Paul, die Erkenntnis zu verkünden: Er "befand sich also in der merkwürdigen Situation, stetig und sogar mit einer gewissen Hingabe am Erhalt eines Gesellschaftssystems zu arbeiten, von dem er wusste, dass es unweigerlich verloren war".

Die Selbstabschaffung des Westens ist These jedes Houellebecq-Romans. Der Autor beißt in Vernichten aber weniger zu als in früheren. Man kann sich auf seine Thesen leicht einigen. Es gibt mehr Resignation als Eskalation.

Das Politische ist Paul aber egal, als sich ein schmerzender Zahn als ernsterer Fall entpuppt. Die Hoffnung im Leid bildet nun eine ungeheure Intimität zwischen Paul und Prudence. Ehe heißt, den Verfall des eigenen Körpers dem anderen zumuten zu können. Auf 600 Seiten lässt sich das in Houellebecqs schnörkelloser, präziser Sprache sehr elegant lesen. Ja, man verschlingt diesen weltsatten, dabei nie überladenen Gesellschaftsroman. (Michael Wurmitzer, 11.1.2022)